Weisse Dominanz in und auf barrikade.info

Erstveröffentlichung auf: https://barrikade.info/article/3944

Ziel des Artikels

Am 5. Juni 2020 wurde der Artikel „Demo-Leitlinien für Weisse Menschen“, publiziert am 21.7.20, von Linke PoC vorgeschlagen.

Die laufende Diskussion darüber ist Teil unserer Auseinandersetzung mit unserer Verantwortung als weiss-dominiertes Medienkollektiv in einer ebenfalls weiss-dominierten, rassistischen Medienlandschaft*, welche wir dank dem genannten Text (fortan mit „Leitlinien-Text“ abgekürzt) – und auch weiteren hier publizierten Beiträgen zu Rassismus in der hiesigen mehrheitlich weissen Szene – vertiefen.

Barrikade.info ist nicht unbedingt nur weiss, weil die meisten Kollektivmitglieder weiss sind, sondern weil es Teil einer weissen Vorherrschaft ist und darin funktioniert.

Wir fragen uns: Was heisst diese weisse Dominanz für die Inhalte von Barrikade.info? Welche Artikel werden vorgeschlagen, welche publiziert, welche „gefördert“, welche nicht? Und schliesslich: es ist gut – ein erster Schritt – diese weisse Dominanz zu reflektieren, aber wie kann sie gebrochen, transformiert werden? Wie können wir hier Verantwortung übernehmen („white accountability“)?
Unsere Diskussion wird implizit von mehreren Ebenen beeinflusst: dazu gehören erstens eine individuelle Ebene, zweitens die Ebene von uns als Kollektiv, drittens die Ebene einer emanzipatorischen Bewegung und viertens die Ebene als Teil der schweizer Medienlandschaft (ein Blick auf die schweizer Medienlandschaft genügt: es sind hauptsächlich – fast ausschliesslich! – weisse Blätter und Online-Medien. Auf Social Media haben Publikationen von Personen mit Rassismuserfahrung zugenommen.).

Der Artikel beinhaltet eine Selbstreflexion, zeichnet die Entwicklung der internen Debatte um den Artikel sowie auch der Backend-Diskussion nach und endet mit Gedanken zum Umgang mit der weissen Dominanz. Dieser Artikel ist kein Abschluss der Diskussion, sondern markiert deren Beginn.

Positionierung, Konflikthaltung, Zusammenstellung der Gruppe

Die Mitglieder sind in verschiedenen Strömungen der antiautoritär-emanzipatorischen schweizer Szene aktiv. Unsere Haltung ist klar antirassistisch und antifaschistisch.

Im Kollektiv selber haben wir fast keine Perspektiven von BIPOC und_oder von Rassismusbetroffenen vertreten. Bisher haben wir dies auch nicht problematisiert – ein Fehler. Weder wurde thematisiert wie es für die wenigen von Rassismus Betroffenen des Kollektivs ist, Teil eines mehrheitlich weiss-christlich sozialisierten Kollektiv zu sein, noch hat der mehrheitlich weiss-christlich sozialisierte Teil des Kollektivs die eigenen rassistischen Denkmuster bezüglich der Arbeit reflektiert. Let’s face it: barrikade.info ist ein weisses Kollektiv sowie eine weisse News-Site.

Während eine Privilegienreflexion wichtig ist, sollte auch die Dynamik von Privilegien beachtet werden. Privilegien sind nicht statisch sondern kontextabhängig und komplex. Niemand ist „homogen“ oder „eindimensional“, keine Gruppe ist „homogen“, es soll keine designierten Wortführenden geben, die für eine solche“homogene“ Gruppe sprechen. Gleichzeitig können Privilegien als „Erkenntnisressource“ und „Erkenntnisbarriere“ wirken.

Zudem ist es weder unser Ziel, eine reine Nabelschau zu betreiben, also „die eigenen Privilegien zu „bekennen“ – was sie natürlich nicht zum verschwinden bringt; noch darüber zu schweigen und ihre Wirkung zu verleugnen.

Wir möchten Konflikte und Unangenehmes benennen, austragen und aushalten. Kritik ist eine Chance und macht uns stärker. Wir möchten uns auch bewusst sein, dass wir einiges jetzt anders sehen mögen als in ein paar Jahren.

Ängste sind selbstredend vorhanden, was auch mit der Geschichte der Diskussion im deutschsprachigen Raum zu tun hat: Gräben zwischen Critical Whiteness und weiteren Teilen der antirassistischen Bewegung gingen auf (vgl. unten genannte Ausgabe Nr. 575 der Zeitschrift analyse + kritik AK). Wir möchten uns lösen von dem „entweder oder“ und den konflikthaften Prozess eingehen mit all den Widersprüchen.

Was ist passiert?

 

Zeitlicher Ablauf

Der Leitlinie-Artikel wurde am 5. Juni 2020 im Backend vorgeschlagen, darauf nahm eine interne, hitzige Diskussion innerhalb des Kollektivs (wie auch im Backend, siehe unten) ihren Lauf. Die Voten gingen auseinander, die Zeit verging. Die Leitlinien empfanden einige von uns als autoritär und folglich nicht unseren Grundsätzen entsprechend. Einen Konsens zur Publikation gab es nicht. Deswegen wurde der Artikel vorerst nicht publiziert, aus Gründen der Ehrlichkeit, jedoch auch im Wissen, dass der fehlende Konsens und das Unbehagen nicht nur, aber auch mit unseren eigenen Rassismen zu tun haben. Bevor ein definitiver Entscheid zu „Publikation“ oder „Ablehnung“ gefällt werden sollte, wollten wir uns der Reflexion unserer Verantwortung als fast ausschliesslich weiss-christliches Medienkollektiv in einer weiss, christlichen und rassistisch dominierten Medienlandschaft widmen. Dies wurde den Autor*innen am 30. Juni 2020 im Backend und per E-Mail mitgeteilt.

Intern wurde das Thema an mehreren Sitzungen debattiert und schliesslich eine Arbeitsgruppe gegründet. Diese hat diesen Text entworfen sowie Linke PoC kontaktiert mit der Anfrage um einen Austausch zu ihren Erfahrungen mit und Kritik zu unserer Medienseite, ohne ihr Wissen einseitig ausnutzen zu wollen. In Zukunft werden wir auch auf weitere Kollektive mit negativer Rassismuserfahrung zugehen, um diese Fragen zu diskutieren.

Im Backend entfaltete sich unter dem vorgeschlagenen Artikel eine Diskussion unter User*innen:

Anonym, 7.6.20: „Es ist wichtig sich mit critical whitness auseinanderzusetzten aber dieser Text ist Autoritärer Scheiss (sorry für die Wortwahl, aber da fällt mir nichts besseres ein) und ich hoffe dass dies auf einer vermeidlich anti-autoritärer Infoseite nicht publiziert wird.“
Linke PoC, 8.6.20: „Dies ist eine Übersetzung aus Black Lives Matter-Protesten in den USA. Vielleicht mit einem Hinweis versehen? Es geht uns darum, damit eine Diskussion auszulösen.“ „Wir würden noch gerne darum bitten, einen allfälligen Entscheid mit Begründung mitzuteilen.“ „Es geht um die Frage, wer bei Schwarzen Protesten im Zentrum sein soll. Und erfahrungsgemäss nehmen sich häufig Weisse Linke diesen Raum ein. Der Text ist ein – radikal und überspitzt formulierter – Aufruf dagegen. Aber wir denken, dass diese prägnante, auffordernde Sprache berechtigt ist, um auf einen Misstand hinzuweisen, der in der Linken häufig unsichtbar gemacht wird.“
Linke PoC, 12.6.20: „Wir haben noch eine Vorbemerkung eingefügt, welche den Hintergrund erklären sollte. Wir hoffen, damit ist es ok.“ 14.6.20: „@Redaktion, könnt ihr prüfen, ob eine Publikation mit der Vorbemerkung ok wäre? Ansonsten werden wir einen Artikel machen nur mit der Vorbemerkung.“
Anonym, 26.6.20: „Ich fände in dem einleitenten Hinweis vlt. noch ein Hinweis auf Konzepte wie Betroffenenperspektive,Empowerment etc. sinnvoll.“
Anonym, 27.6.20: „ey nur gschwind an die admins der seite: veröffentlicht diesen beitrag. alles andere ist tone policing. weisse personen sollten sich nicht das recht nehmen schwarzen personen /poc vorzuschreiben, was sie von weissen personen fordern.“
Brrk, 30.6.20: „Danke für eure Vorbemerkung und die ganze Arbeit! Die Leitlinien empfinden viele von uns als autoritär und folglich nicht unseren Grundsätzen entsprechend. Einen Konsens zur Publikation gab es bisher nicht. Deswegen werden wir sie vorerst nicht publizieren. Der fehlende Konsens und das Unbehagen mit den Leitlinien haben aber auch mit unseren eigenen Rassismen zu tun. Die laufende Diskussion darüber ist Teil unserer Auseinandersetzung mit unserer Verantwortung als weiss-dominiertes Medienkollektiv in einer rassistischen Medienlandschaft, welche wir dank dem Leitlinien-Text – und auch weiteren hier publizierten Beiträgen zu Rassismus in der weissen Szene – vertiefen möchten. Solidarische Grüsse, Barrikade Kollektiv.“
Brrk, 21.7.20: „liebe Linke PoC. Entschuldigt, dass dieser Prozess so lange gedauert hat. Wir veröffentlichen nun den Artikel inkl. Vorbemerkung. Unsere interne Auseinandersetzung mit Rassismus dauert fort. Solidarische Grüsse, Barrikade Kollektiv.“
Publikation wie von Linke PoC vorgeschlagen mit ihrer Vorbemerkung am 21.7.2020.

Diskussion

Im Kollektiv haben wir unsere Positionen für eine Publikation und gegen eine Publikation der Leitlinien debattiert. Zudem haben wir uns mit eurozentrischem Anarchismus, dem Begriff «autoritär» und zentralen Konzepten von Critical Whiteness auseinandergesetzt (eine detaillierte Zusammenstellung solcher Konzepte findet sich z.B. in diesem Artikel, inkl. Quellenangaben: https://barrikade.info/article/3848).

Nach einer gewissen Zeit wurde von den Autor*innen der Leitlinien auf Eigeninitiative eine Vorbemerkung, also eine Kontextualisierung, nachgereicht, was in unserer Diskussion begrüsst wurde.
Wir haben den Artikel schliesslich mit der Vorbemerkung publiziert, die Autor*innen darüber per Mail informiert sowie eine Arbeitsgruppe zum Thema kreiert.

Eurozentrischer und weisser Anarchismus

Die gängige, hier vorherrschende Geschichtsschreibung ist eine weisse Geschichtsschreibung,, die antikoloniale Kämpfe verschweigt; die Politik ist eine weisse Politik (vgl. Zerlina Maxwell und ihr Begriff von «white politics»:

«I think of it this way: We have always been doing white politics, but we just left off the word “white.” The way politicians talk about issues and communities, we tend to center “whiteness” and it needed to be called out. So, what I mean by the end of white politics is an acknowledgment that we’ve been doing white identity politics. And that that’s very limiting, particularly as a progressive.»)

Weisse Geschichte/weisse Menschen/weisse Politik etc. stehen immer im Fokus, das Weisssein wird nicht mal genannt, denn es gilt als der Normalzustand (white centrism).

Auch unsere Sicht auf den Anarchismus ist weiss und eurozentrisch geprägt. Entweder eine Politik enspricht genau der europäischen Variante des Anarchismus aus dem 19. Jh. (hauptsächlich von weissen Männern geprägt) – von Maia Ramnath als «grosses (A)» markiert –, oder es ist eine schlechte, ungenügende Imitation. So haben z.B. antikoloniale Kämpfe und nationalistische Befreiungskämpfe in dieser weissen anarchistischen Geschichtsschreibung keinen Platz, auch wenn sie als anarchistisch gelten können – von Maia Ramnath mit einem «kleinen (a)» markiert. Wir sollten versuchen, aus dieser Binarität («EU-Anarchismus» und «das Andere») auszubrechen und andere Kontexte ohne unsere weisse Denkschablone betrachten. Maia Ramnath dazu:

„That means that instead of always trying to construct a strongly anarcha-centric cosmology-conceptually appropriating movements and voices from elsewhere in the world as part of „our“ tradition, and then measuring them against how much or little we think they resemble our notion of our own values-we could locate the Western anarchist tradition as one contextually specific manifestation among a larger-indeed global-tradition of antiauthoritarian, egalitarian thought/praxis, of a universal human urge (if! dare say such a thing ) toward emancipation, which also occurs in many other forms in many other contexts. Something else is then the reference point for us, instead of us being the reference point for everything else. This is a deeply decolonizing move.»

„«This is perhaps where I need to make a distinction between the concept of anarchism and the Circle-A brand. The big A covers a specific part of the Western Left tradition dating from key ideological debates in the mid-nineteenth century and factional rivalries in the International Working Men’s Association. It peaked worldwide in the early twentieth century among radical networks that consciously embraced the label while nevertheless encompassing multiple interpretations and emphases within it. Genealogically related to both democratic republicanism and utopian socialism, the big A opposed not only capitalism but also the centralized state along with all other systems of concentrated power and hierarchy. It bore echoes of earlier radical egalitarian, libertarian, and millenarian movements as well, with their carnivalesque upendings of rank and social norms, and upholding of a pre- or noncapitalist moral economy. These in turn resonated through later Romantic reactions against an excess of Enlightenment positivism, bemoaning the psychic disenchantment as much as the material exploitation wrought by industrial capitalism.

With a small a, the word anarchism implies a set of assumptions and principles, a recurrent tendency or orientation-with the stress on movement in a direction, not a perfected condition-toward more dispersed and less concentrated power; less top-down hierarchy and more self-determination through bottom-up participation; liberty and equality seen as directly rather than inversely proportional; the nurturance of individuality and diversity within a matrix of interconnectivity, mutuality, and accountability; and an expansive recognition of the various forms that power relations can take, and correspondingly, the various dimensions of emancipation. This tendency, when it becomes conscious, motivates people to oppose or subvert the structures that generate and sustain inequity, unfreedom, and injustice, and to promote or prefigure the structures that generate and sustain equity, freedom, and justice.

In this case, those seeking counterparts or solidarities might be guided not by Anarchism but instead by that broader principle, tendency, or orientation of which Western anarchism is one derivation or subset. The Liberty Tree is a great banyan, whose branches cross and weave, touching earth in m any places to form a horizontal, interconnected grove of new trunks.» (Ramnath 2011, unsere Hervorhebung).“

Das alleinige Gelten lassen von Stimmen, die dem «reinem» (weissen, mit grossem (A)) Anarchismus entsprechen, kann als Rosinenpicken (oft auch englisch: Cherry Picking) gewertet werden. Die Argumentationstheorie bezeichnet Rosinenpicken als eine Technik, bei der nur Belege angeführt werden, die die eigene Argumentation stützen, während andere Belege, die gegen die Argumentation sprechen bzw. sie widerlegen, bewusst weggelassen werden. Diese Rosinenpickerei kann bei uns zu einer Vorführung eines sehr weissen Anarchismus führen.

Was ist überhaupt antiautoritär?

In einem politisch radikalen Zusammenhang ist der Autoritäts-Begriff historisch geprägt vom «antiautoritärem Sozialismus» à la Bakunin; einer Ablehnung von autoritären, hierarchischen und militärischen Machtsystemen; der allgemeinen Ablehnung von Herrschaft von Menschen über Menschen und einem ausgeprägten Freiheitsdenken.
Wikipedia sagt dazu (gekürzter Abschnitt):

Autoritär ist ein Wort, das Ende des 19. Jahrhunderts aus dem französischen autoritaire (dieses nach französisch auteur, wie das deutsche Wort Autor sich von lateinisch auctor ableitend) entlehnt worden sein soll. […] Das Wort ist mehrdeutig, wobei heute eine negative kritische Hauptbedeutung überwiegt.
Neutral […] wird darunter „auf Autorität beruhend“ oder „mit Autorität ausgestattet“ verstanden.
Anderenorts wird die Bedeutung auch beschrieben als „mit überlegener Macht ausgestattet aus eigener Machtvollkommenheit“.
[…] Inzwischen überwiegt eine negative Hauptbedeutung, die mit „totalitär, diktatorisch“ und „unbedingten Gehorsam fordernd“ angegeben wird. […] Die Hauptbedeutung kommt in verschiedenen Zusammenhängen zur Anwendung:
• Sozial-psychologisch spricht man von einem autoritären Charakter oder ähnlich von einer autoritären Persönlichkeit und versteht darunter „menschliche Charaktere, die sich durch ein ausgeprägtes Überlegenheitsgefühl, überzogenen Machtanspruch und das Unterwerfen Schwächerer auszeichnen und dadurch Intoleranz, Dogmatismus und Unfreiheit fördern.“
• Politikwissenschaftlich ist unter anderem die Rede von Autoritarismus als Ideologie bzw. von autoritären Regimen, die sich dadurch auszeichnen, „dass sie a) die Möglichkeiten demokratischer Mitwirkung stark einschränken, b) öffentliche Willensbildungsprozesse (Presse-, Informationsfreiheit) und die öffentliche Auseinandersetzung über politische Entscheidungen stark behindern und c) die pluralistische Interessenvielfalt begrenzen.“
• In der Pädagogik stehen sich Konzepte der autoritären Erziehung und antiautoritären Erziehung gegenüber. In der Diskussion ist jeweils zu klären, ob man autoritäres Verhalten in seiner negativen Hauptbedeutung oder jedwede Autorität meint.

Auszüge aus unserer Diskussion

 

Stimmen gegen die Publikation der Leitlinien

Anderer Kontext, fehlende Kontextualisierung

Die Leitlinien wurden in einem ganz anderen Kontext (USA) innerhalb einer ganz anderen Demokultur geschrieben. Nun wurden sie einfach übersetzt und auf unseren Kontext übertragen, ohne jedwede Einleitung und Kontextualisierung. Gerade die Kontextualisierung wäre nötig, damit die berechtige Kritik an weisser Demokultur ernstgenommen wird. [Diese bemängelte, fehlende Kontextualisierung wurde dann mit der Vorbemerkung der Autor*innen effektiv vorgenommen].

Feministisches Unbehagen

Aussagen wie „Deine Aufgabe ist es, ein Körper zu sein.“ „Spare dir deine Gefühle für zuhause.“ sind aus feministischer Perspektive sehr problematisch. Ständig müssen FLTIQ* im Alltag, Projekten und Beziehungen dagegen ankämpfen, dass sie nicht auf ihren Körper reduziert werden oder sich selber darauf reduzieren, und diese Leitlinien hören sich nach einer solchen Reduktion an.

Autoritärer Duktus

Die Leitlinien formulieren einen Anspruch und Imperativ, die als autoritär gelesen werden können. Es ist schwer, eigene Privilegien zu reflektieren und es ist noch schwerer, die Reflexion umzusetzen. Aber trotzdem soll es keine „Protestanführer“ geben, egal in welchen Protesten, genauso wenig wie es Menschen geben soll, die Anweisungen befolgen, egal bei was. Bereits der Titel «Leitlinie» ist grenzwertig und gibt sich als allgemeingültigen Handlungsansatz; zudem gibt es vor, für «alle PoC» zu sprechen.
Als antiautoritäre Plattform sollten wir bei den vielen Stimmen, die es innerhalb der BLM Bewegung gibt, diejenigen unterstützen, die uns ideologisch nahe sind.

Autoritär? Inhalt und Autor*innen

Die Moderation soll Artikel von allen Autor*innen, auch von PoC, ablehnen können, falls diese Artikel nicht den Moderationskriterien entsprechen. Inhalte nur zu publizieren, weil sie von PoC geschrieben wurden und nicht, weil sie inhaltlich den Grundsätzen entsprechen, ist ein Zeichen von positiv rassistischem Verhalten. Ein solches Verhalten zu reflektieren, ist ein wichtiger Teil der Reflexion unserer weissen Privilegien.
In der Moderation wurde primär auf autoritärer Inhalt, und nicht auf die Autor*innenschaft geachtet. Der Artikel ruft ganz explizit und sehr verkürzt zu Führung und Gehorsam auf, er ruft direkt dazu auf, Autoritäten zu akzeptieren. Und das ist bei früheren Artikeln so nicht vorgekommen.

Stimmen für die Publikation der Leitlinien

Kontext und Sprache

Die Leitlinien sind aus den USA. Erstens ist dies ein anderer Kontext, zweitens wurden sie zudem ins Deutsche übersetzt. Die Begriffe «to lead», zu führen, sowie auch «Leadership» haben auf Englisch eine andere (weitaus positivere) Bedeutung als auf Deutsch und werden auch in radikalen Zusammenhängen positiv verwendet.

Barrikade und BLM; rassistische Grundmuster von Barrikade.info

Barrikade ist keine «neutrale» Plattform, es gibt keine «faire» Verteilung von Texten. Auf der ganzen Welt löste BLM starke Reaktionen, auch in den Mainstream-Medien, aus. Es wurde fast kein Inhalt zu BLM auf Barrikade gepostet, ein klares Zeichen für die weiss geprägte autonome Szene in der Schweiz. Dies ist nicht die alleinige Verantwortung von barrikade.info, dennoch sollten wir hier unsere Verantwortung wahrnehmen und bspw. auf Kollektive mit negativer Rassismuserfahrung zugehen und barrikade.info bewerben, so wie wir es bei der Klimabewegung und dem feministischen Streik gemacht haben.

Das BLM- Echo blieb auf Barrikade.info nicht nur aus; einer der wenigen Artikel zum Thema wurde (erst) abgelehnt. Auch bei einem Artikel in Zusammenhang mit Antisemitismus gab es eine grosse Diskussion, was ein rassistisches Grundmuster in unserer Gruppe offenbart. Bei bspw. feministischen Artikeln gab es wohl schon viel mehr Reibungsfläche und die Positionen der Kollektivmitglieder sind deutlicher.

Es ist also zentral, uns als Kollektiv sowie unsere Richtlinien/Moderationkriterien zu reflektieren, da beides weiss und rassistisch gefärbt ist.

Zum Autoritäts-Vorwurf: «autoritäre» Inhalte und autoritäre Gruppen

Wenn ein Artikel inhaltlich nicht autoritär ist, aber der Text von einer autoritären Gruppe kommt, publizieren wir ihn gemäss unsere Grundsätzen oft trotzdem. Dies passiert insbesondere bei kommunistischen Gruppierungen, die in unserer Szene nicht unbedeutend sind. Unsere detaillierte, Wort für Wort-Kritik und lange Diskussion an den Leitlinien sind aussergewöhnlich. Bei welchen Artikeln schauen wir ganz genau hin, und welche publizieren wir, ohne mit der Wimper zu zucken?

Worte und Macht

Wenn weisse über die Leitlinien sprechen, fokussieren sie auf den Aspekt des autoritären Stils. Dies ist dann das Hauptthema. Nicht aber der Inhalt, die Ideen, wie Weisse sich an einer PoC-Demo einbringen könnten (wobei Stil und Inhalt nur bedingt voneinander getrennt werden können). Dieser ist dann zweitrangig oder wird aufgrund des Stils abgelehnt. Dies ist ein rassistischer Reflex, eine Abwehrhaltung.

Die Formulierung kann kritisiert werden, dennoch gibt es das Muster in einer hierarchischen Welt, dass «nette Appelle» von unterdrückten Gruppen nicht gehört werden, und nur eine laute, befehlerische Sprache Aufsehen erregt und Beachtung erhält (zur Beachtung und Sichtbarkeit: Bei Mainstream-Artikeln zu BLM Demos wurden bemerkenswerterweise oft weisse Menschen abgebildet) (anderes Beispiel: Forderungen von FLINT personen werden oft auch abgelehnt mit der Begründung, sie seien zu aggressiv (tone policing)).

Für einige PoC kann es sehr dringlich sein, dass diese Leitlinien befolgt wurden, damit sie sich an ihrer eigenen Demo sicherer fühlen können. Gleichzeitig ist es für viele weisse Personen ungewohnt, explizit aufgefordert zu werden, ihre (implizite) Kontrolle und Autorität, die sie nämlich selber an Demos und über die Demos haben abzugeben und nicht «unabdingbar» für eine Demo zu sein.
Anderes Beispiel: Aufrufe für Demos ohne Cismänner werden von einigen auch als autoritär angesehen und es brauchte (und braucht) viel Zeit und Dialog, bis dies akzeptiert (und teilweise nachvollzogen) werden kann.

Als weisse Person können wir diese Situation aushalten, abwarten und reflektieren, was dies mit uns macht. Bspw. Ist es ein rassistischer Reflex, insbesondere von PoC keine Befehle / Wünsche hören zu wollen, sie werden dann als übertrieben laut, aggressiv dargestellt.

Es geht nicht um bedingungslosen Gehorsam, sondern darum, sich zu beruhigen, auf die kommende Entwicklung gespannt zu sein und weiter zu diskutieren.

Sich von Angst regieren zu lassen ist schlecht, aber es gibt für Weisse keinen Grund Angst zu haben, wenn wir uns in einem ständigen selbstkritischen Prozess und Austausch befinden. Die Publikation der Leitlinien kann zu einem solchen Prozess beitragen.

«Autoritär» / «antiautoritär»

Unsere Differenzierung von «autoritär» / «antiautoritär» ist schwamming, wir haben keine genaue Definition davon. Es wäre ebenfalls wünschenswert, Begriffe in unseren Grundsätzen genauer zu klären.

Wir haben je nach Perspektive auch schon autoritäre Artikel publiziert, z.B. von kommunistischen Gruppen (und wurden dafür auch schon in Artikeln kritisiert). Ein weisses Demo-Orga-Grüppli, das eine antirassistische Demo organisiert, durchführt und „anleitet“, zwar ohne klare Führungsperson, aber halt als sehr dominantes Grüppli, kann genauso als autoritär betrachtet werden, auch wenn sie sich selber / andere sie als antiautoritär bezeichnen.

Eurozentrismus als strukturelle Autorität

Grundsätzlich ist kritisch, dass Personen in weiss geprägten linken Strukturen nicht in Betracht ziehen, dass Kämpfe von BIPoC teilweise aus anderen Kontexten kommen und dass sie so deswegen sofort bswp. Fahnen schwenken, der Wunsch nach einem autonomen Gebiet, die Verherrlichung von Einzelpersonen oder das lautstarke Einfordern von etwas verurteilen.
Dieses Verurteilen ist weiss zentristisch. Nicht alle wollen und – vor allem: können an denselben Punkten anknüpfen wie weisse Linke dies tun.
«Diese ganze Diskussion ist autoritär und weiss

Whitesplaining

Im Kollektiv kam die Idee auf, einen eigenen Text oder eine eigene Einleitung zu den Leitlinien zu schreiben.
Dies wurde als whitesplaining kritisiert:
«Wieder werden Perspektiven und Ideen von BIPoC von Weissen kritisiert und es herrscht das Gefühl, es braucht aus irgendeinem Grund eine weisse Stellungnahme dazu. Nobody asked for that. Wieder haben Weisse das Gefühl, sie müssen ihre doch so schlaue, bessere und weitere Kritik anhängen, an einem Thema, von dem sie keine Ahnung haben. Diese «Leitlinien» sind formuliert aus dem Zuge der Black Lives Matter Bewegung, bei welchem es um Schwarze Perspektiven und Lebensrealitäten geht.
Die Perspektiven, Lebensrealitäten und Forderungen von BIPoC und in dem Fall Black People sind nicht monolithisch. Fragen, Ideen und Forderungen von Schwarzen, Indigenen und People of Color werden nicht nach den Massstäben von Weissen und Weisssein diskutiert und kritisiert.
Bei diesen Protesten geht es um Polizeigewalt gegen Schwarze.
Als nichtschwarzer Anarchist/Antiautoritär ist es meine Pflicht, zusammen mit meinen weißen Friends, Demonstrant*innen, Anarchist*innen, Antiautoritären und anderen Linksradikalen anzuerkennen, dass dies nicht unsere Bewegung ist. Schwarze Anarchist*innen existieren – es gibt rassifizierte und radikalisierte Schwarze.
Wir haben gemeinsame Ziele, gemeinsame Unterdrückung, gemeinsame Feind*innen – aber es ist immer noch nicht unsere Bewegung. Wir können helfen, wir können auf der Strasse sein, aber um das zu tun, müssen wir uns den Black folx beugen, uns die divergierenden Perspektiven der Schwarzen anhören und keine Rosinen herauspicken. Wir sollten die Stimmen der Schwarzen verstärken.
White folx sollten nicht irgendeinen ideologischen Test durchführen, um zu sehen, ob dies genau mit ihren Ansichten übereinstimmt. Es geht um den Kampf der Schwarzen gegen die Polizei und gegen eine fundamental anti-Schwarze Welt. Minimisiert den Kampf der Schwarzen nicht, indem ihr annehmt, ihr wüsstet es besser.
Hier geht es nicht um dich, mich oder unsere Ideologie. Es ist nicht unsere Zeit, uns Dinge herauszupicken, die wir mögen oder nicht mögen. Die Konfrontation und Zerstörung weisser Machtstrukturen ist hart und schmerzhaft und nicht immer so, wie Weisse glauben, dass sie aussehen oder sich anfühlen werden. Es geht darum, die Befreiung von Schwarzen in vollem Umfang radikal zu unterstützen. […] Ich möchte eine Welt, in der mehrere Welten Platz haben».

(Die Idee, einen eigenen Text zu schreiben, wurde aufgrund des whitesplaining-Argument wieder verworfen.)

Jetziger und zukünftiger Umgang

Auch wenn zeitnahere Aktionen und Entscheidungen wünschenswert sind, ist dies einerseits aus Kapazitätsgründen nicht immer möglich, und andererseits muss auch Verständnis dafür bestehen, dass eine solche – nachhaltige! – Reflexionsarbeit innerhalb eines grösseren Kollektivs Zeit benötigt.
Wir haben die Autor*innen, Linke PoC, um einen Austausch gebeten, und beabsichtigen, auf weitere Gruppen mit Rassismuserfahrung zuzugehen und dazu auf brrkd.info auch einen Aufruf zu posten. Dieses aktive Zugehen auf Strukturen und das Anbieten von Unterstützung beim Publizieren haben wir auch beim feministischen Streik sowie beim Klimastreik gemacht.

Im Kollektiv möchten wir unsere Zusammensetzung reflektieren. Was sind unsere Überlegungen bswp. zu Privilegien, Homogenität, Repräsentation, Zugänglichkeit? Was bedeuten diese Faktoren für unsere politische Betätigung bei barrikade.info?

Wie können Seiteninhalte wie z.B. Antirassismus und weisse Verantwortungsübernahme gefördert werden, aber nicht auf eine künstliche Weise, welche die Situation in unserer Szene schönfärberisch und falsch abbilden würde?

Es stellt sich auch ein gruppendynamisches Problem eines weissdominierten Kollektivs in der Rassismusdiskussion: Wie können Diskussion und Konfrontation in unserem Kollektiv weiter gefördert werden? Es ist sicherlich gut, hässige Diskussionen führen zu können, welche auch white fragility beinhalten. Dies kann aber auch sehr triggernd für von Rassimus betroffene Menschen sein, wenn sie die Diskussion lesen. Wie gehen wir mit damit um? Wie können wir diesbezüglich einen Umgang/eine Awareness finden? Dabei ist es Wunschdenken, dass PoC sich in einem solchen Kollektiv «wohlfühlen» würden. Besser und realistischer ist es, zu versuchen, einen respektvollen Umgang mit Widersprüchen zu pflegen.

Medienempfehlungen und Quellen

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