Die linksextreme Szene wird gefährlicher

Der Antikommunismus hat eine lange Tradition beim Verfassungsschutz. Er stecke „tief drin in unserer DNA“, sagt ein hochrangiger Nachrichtendienstler. Das habe mit der Geschichte zu tun, mit dem Kalten Krieg. Mit einer Mentalität, die lange besagte: „Wenn es hier mal politisch kippt, dann sind wir die Ersten, mit denen die Kommunisten abrechnen.“ Und nicht nur beim Inlandsgeheimdienst, auch bei anderen Behörden ist das eine nicht nur professionelle, sondern manchmal auch persönliche Angelegenheit. Bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, umgeben von dicken Betonmauern, ist der größte Saal nach dem einstigen Generalbundesanwalt Siegfried Buback benannt. Er wurde im Terrorjahr 1977 von der RAF ermordet.

Wenn heute im Sicherheitsapparat davon die Rede ist, dass die linksextreme Szene wieder gefährlicher werde – dann ist man deshalb geneigt, diese Einschätzung zunächst mit Vorsicht zu würdigen. Dann aber häufen sich Meldungen wie diese: In Berlin hat sich die Zahl linksextrem motivierter Gewalttaten nach Angaben der Polizei im vergangenen Jahr verdoppelt von 96 auf 205. In Leipzig wurden im vergangenen Jahr die Anwohner einer Großbaustelle durch den Knall einer Explosion geweckt. Drei Baukräne, die teure Wohnungen hochziehen sollten, standen in Flammen, kurz darauf brachen zwei vermummte Männer in die Wohnung einer Leipziger Immobilienmaklerin ein, attackierten sie mit Fäusten.

Auf der Szene-Webseite de.indymedia.org war höhnisch von einem „Hausbesuch“ zu lesen, einem angeblichen Akt des Widerstands gegen die Gentrifizierung. Auf derselben Webseite sind in den vergangenen Tagen auch Tipps für die Waldbesetzer im Dannenröder Forst aufgetaucht. In einem Online-Aufruf ist die Rede von „Bullenkarren anzünden“ und heftigeren Angriffen auf die Polizei. „Gewaltlosigkeit führt zu Waldlosigkeit“. Über den Blog „Wald statt Asphalt“ ist der Text sogleich weiterverbreitet worden.

Beim Bundesamt für Verfassungsschutz spricht man von einer Dynamik, die sich gerade zuspitze. Die linksextreme Szene trete enthemmt auf. Nicht nur gegen Sachen, sondern auch gegen Menschen werde Gewalt immer häufiger für legitim erklärt. In einigen Regionen sei zu beobachten, dass sich kleinere Zellen „innerhalb der gewaltorientierten linksextremistischen Szene herausbilden“, die sich „vom Rest der Szene abspalten“.

Eine Studentin attackierte verkleidet und mit Schlagstöcken eine Kneipe der Rechten. Nun sitzt sie in Haft

Als Beispiel nennen Sicherheitsleute immer wieder die 25-jährige Studentin, die eine Kneipe der rechten Szene im thüringischen Eisenach attackiert hatte, Lina E. Weil sie extrem konspirativ aufgetreten sein soll, mit Perücke und fremdem Ausweis, und sehr brutal, mit Schlagstöcken, ist sie kürzlich sogar zum Fall für die Bundesanwaltschaft geworden: Mitgliedschaft in einer linksextremistischen kriminellen Vereinigung, heißt es jetzt im Haftbefehl. Neun mutmaßliche Gefolgsleute sind mit ihr beschuldigt.

Aber auch in Berlin, wo die Zeiten der rituellen Gewalteskalationen zum 1. Mai eigentlich vorbei sind, flammen alte Konflikte wieder auf. Als Polizeibeamte kürzlich die linke Szenekneipe „Syndikat“ im Stadtteil Neukölln räumen mussten, deren Mietvertrag abgelaufen war, skandierten schwarz gekleidete Autonome: „Gebt dem Bullen, was er braucht: Neun Millimeter in den Bauch!“ Einem 30-jährigen Beamten soll eine Flasche direkt ins Gesicht geworfen worden sein. Nur eine Notoperation habe verhindert, dass er auf einem Auge erblindete. Anschläge auf Autos, Büros und Privatwohnungen von AfD-Politikern kommen in der Hauptstadt sogar so gehäuft vor, dass die Polizei eine eigene Sondereinheit gebildet hat – die Soko Blau. Benannt nach der Parteifarbe der Rechtspopulisten.

Durch Gentrifizierung gehen die letzten Rückzugsräume verloren. Das fördert die Militanz

Es scheint sich bundesweit etwas zu regen – und wo immer man in diesen Tagen mit Verfassungsschützern darüber spricht, ob in großen Bundesländern oder auch in kleinen, beschreiben die Nachrichtendienstler eine ähnliche Entwicklung innerhalb ihrer linksextremen Szene: den Mut der Verzweiflung. Denn überall stecke die Szene in einer schwierigen Lage. Sie sei überaltert und geschwächt. Die Gewinnung von Nachwuchs falle schwer, „weil man sich doch in ein recht enges Korsett einfügen muss“, wie ein erfahrener Staatsschützer sagt. Es herrschten steile Hierarchien in der „durchideologisierten“ Szene – auch aus Misstrauen und Angst vor Spitzeln. Bei Besprechungen würden nicht nur die Handys ausgeschaltet, sondern auch die Akkus herausgenommen.

Anders als in der Neonazi-Szene würden Autonome nur sehr selten als V-Leute mit dem Staat kooperieren. Die Folge: Nicht einmal der Inlandsgeheimdienst, so heißt es, kenne aktuell die wichtigsten Akteure der Szene in Berlin, Leipzig-Connewitz oder auch Hamburg mit ihrem echten Namen.

Die Szene erlebe gerade, wie ihre letzten Rückzugsräume verloren gingen. Bauwagenplätze, besetzte Häuser, alternative Wohnprojekte würden zunehmend verdrängt, sagt ein Verfassungsschutzchef in einem der Hotspot-Bundesländer. „Hier geht es jetzt tatsächlich ans Eingemachte, an den Bestand. Je weiter Menschen in die Enge getrieben werden, desto radikaler die Reaktion.“

Hausbesetzer und Autonome können in der Nachbarschaft nicht mehr automatisch mit Nachsicht rechnen

Die neue Militanz, so analysieren die Verfassungsschützer, folge da einer klaren Strategie. Es gehe darum, den politischen Preis für Räumungen hochzutreiben. Ein letztes Gefecht, um den Trend zur Gentrifizierung, der bereits unaufhaltsam zu sein scheint, zumindest zu bremsen. Die Krawalle gegen die Räumung der Szenekneipe „Syndikat“ seien da ein „Probelauf“ gewesen. Die Taktik: Eine zentrale, große Demonstration wird begleitet von Gewaltaktionen, die gleichzeitig über die ganze Stadt verteilt werden, um die Sicherheitsbehörden zu überfordern. In Berlin geht diese Strategie zumindest in Teilen auf.

Gleichzeitig, auch das ist eine gefährliche Zutat, schwinde in den Städten eine Bindung, die den Hausbesetzern und Autonomen lange wichtig war: das grundsätzliche Wohlwollen der Nachbarschaft. Anwohner, die selbst eher bürgerlich leben, aber die Anwesenheit der Alternativen als Teil des Lokalkolorits schätzten, würden zunehmend die Geduld verlieren, heißt es. Das komme davon, wenn, wie im Rahmen der Ausschreitungen in Berlin neulich geschehen, ein Chinaböller in ein Kinderzimmer von Anwohnern hineinfliegt. Da braucht es keinen Antikommunismus in der DNA, damit die Menschen sich entsetzt an die Polizei wenden.

https://www.sueddeutsche.de/politik/linksextremismus-gewalt-verfassungsschutz-1.5124613

passiert am 23.11.20