Staat und RAF: Wurzeln der Gewalt
Nach 30 Jahren Fahndung wird eines der drei noch immer gesuchten (ehemaligen) RAF-Mitglieder verhaftet. Die Geschichtsschreibung, sagen Historiker, verändert sich permanent. In den Schlagzeilen nach der Verhaftung von Daniela Klette erkennt man das nicht. Der Jargon und die entpolitisierte Rahmung sind die gleichen geblieben. Auch 54 Jahre nach dem Entstehen der RAF, 31 Jahre nach ihrer letzten Aktion und 26 Jahre nach ihrer Auflösung. Man zählt die Toten. Die toten Mitglieder aus den bewaffneten Gruppen, die vielen Toten im Gefängnis. Die »Kollateralschäden« der Polizei bei Fahndungsmaßnahmen werden dabei selten benannt. Auch nicht jener Zustand der Nach-Nazi-BRD, in deren Politik, deren Polizei, deren Justiz und in deren Medien neu eingekleidete Nazis saßen, oft Massenmörder erster Güte. Von der »Verteidigung« Berlins im Vietnamkrieg nicht zu sprechen. Skandalisiert werden Überfälle auf Geldtransporter, doch die dabei geraubten Summen sind im Verhältnis zum Milliardenraub in Cum-ex-Geschäften durch Politik und Wirtschaft eher eine Bagatelle.
Ich würde hier gerne ein anderes Bild zeichnen: War die RAF wirklich die gewalttätigste Gruppe, die aus der 68er Bewegung hervorgegangen ist? Ich habe erhebliche Zweifel daran. Personen wie Joseph Fischer, die in den 70er Jahren noch die Parole »Werft die Knarren weg, nehmt Steine« ausgaben, haben, kaum waren sie in Machtpositionen gelangt, ihre inhärente Gewaltbereitschaft staatlich ausgelebt, nicht zuletzt im völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien. Wer heute dem grünen Munitionsexperten Anton Hofreiter oder Marieluise Beck und ihrem Ehemann, dem einst der »Vernichtung des Kapitals« verpflichteten KBW-Funktionär Ralf Fücks, zuhört, steht entsetzt vor einer maßlosen Gewaltbereitschaft und Kriegshetze, die irgendwann niemand mehr im Griff haben wird – und die zu einer erneuten Zerstörung Europas führen kann.
Ich möchte auf einen weiteren fundamentalen Unterschied hinweisen: Die RAF hat sich gegen das imperiale System des Kapitalismus gestellt. Ein relevanter Teil der Nachkriegs- und Enkelgeneration tritt heute mit aller Gewalt für den Fortbestand genau dieses Kapitalismus ein. Von dessen »wertebasierter Liberalität« glaubt sie sich moralisch legitimiert, konkurrierende Kapitalismen wegzufegen, weil die Konkurrenten nicht »liberal«, sondern »autoritär« seien. Als wären sie nicht den gleichen Marktgesetzen unterworfen. Dabei liegt die »Liberalität« des Westens unterm Strich nur im Zubilligen kostenloser Freiheiten, die so lange gültig sind, wie eine Prämisse immer unangetastet bleibt: die Unterwerfung unter das Prinzip der Verwertung von Mensch und Natur.
Wenn ich mir die Geschichte der RAF und anderer bewaffneter Gruppen anschaue, dann standen diese, wie damals viele, gegen die ökonomisch bestimmte Fortsetzung einer Vergangenheit, die nach 68 niemand mehr hätte fortsetzen dürfen. Die barbarisch werdende Zukunft war vorhersehbar. Wäre diese Erkenntnis Ausgangspunkt gesellschaftlichen Handelns geblieben, wären wir heute nicht da, wo wir sind: in einer immer rasender werdenden Destruktion. Die RAF hatte diese Sicht als Ausgangspunkt. Es geht mir dabei nicht darum, die Praxis der RAF zu legitimieren oder gar zu heroisieren. Gescheitert ist gescheitert. Doch zwingt uns die heute unverkennbar gewordene Gewalttätigkeit der global herrschenden Verhältnisse, hier eine andere historische Wertung vorzunehmen. Dabei geht es auch um das Maß der Verlogenheit, die heute in allen politischen Bereichen Normalität geworden ist und ihre Substanz in einer erneuerten alten Moral hat, nach der Krieg »Frieden« ist und die Forderung nach Frieden und einem Ende des Krieges »Kapitulation«.
Eine andere Zukunft
Es ist für mich deshalb nebensächlich, ob Daniela Klette oder die anderen Gesuchten tatsächlich Geldtransporter überfallen haben. Von irgend etwas mussten sie leben. Der ganze Kapitalismus beruht auf Diebstahl und ungleichem Tausch. Bedeutender ist doch: Diejenigen, die diese Transporter überfallen haben, haben ihre politische Bestimmung dabei nicht verloren. Sie haben ihre Not, sich finanzieren zu müssen, nicht über das Leben der anderen gesetzt und ihre Aktion eher abgebrochen, als sie zu eskalieren.
Auch für etwas anderes ist diesen RAF-Mitgliedern zu danken: Sie haben 1998 die bittere Erkenntnis gehabt, gescheitert zu sein. Sie haben dieses Scheitern akzeptiert und die lange Phase des bewaffneten Kampfes beendet. Nirgends in der Politik und in großen Teilen der Gesellschaft findet sich dagegen die Bereitschaft, die Unvermeidlichkeit einer weltweiten Umbruchsituation zu akzeptieren und dementsprechend zu handeln, statt weiter aus der Etappe bis zum letzten Ukrainer zu kämpfen oder die maßlose Vergeltung in Gaza als »legitim« zu betrachten. Wenn es eine andere Zukunft als eine umfassende Zerstörung geben soll, dann müssen wir aus den bestehenden Logiken und überkommenen Rationalitäten aussteigen. Beendet den Krieg. Freiheit für Julian Assange. Für eine politische und damit auf Freiheit ausgerichtete Perspektive für Daniela Klette und die noch gesuchten Burkhard Garweg und Ernst-Volker Staub.
passiert am 02.03.2024