G20-Krawalle in Hamburg: Wer hat angefangen?
Am Morgen des Tages, an dem der G20-Gipfel in Hamburg beginnt, ist die Stimmung im Altonaer Protestcamp sehr gut. Die Männer und Frauen, die hier zelten, haben sich lange auf den Gipfel vorbereitet. Wenige Stunden, bevor sich in den Messehallen die Staats- und Regierungschefinnen und -chefs an diesem 7. Juli 2017 zum ersten Mal versammeln, machen sich die Demonstrantinnen und Demonstranten vom Volkspark aus auf dem Weg.
Wir waren endlich auf der Straße und entschlossen, uns diesem Gipfel entgegenzustellen“, schildert Julia Kaufmann, eine Aktivistin der Ver.di-Jugend, später die Stimmung des Morgens. „Die meisten von uns waren Frauen, es gab Redebeiträge, Sprechchöre und Gesang, die Demonstration war laut. Dass uns im Industriegebiet um diese Uhrzeit vermutlich niemand hörte, war uns egal.“
Es sind rund 200 Männer und Frauen, die sich seit 6 Uhr vom Volkspark aus in die Innenstadt bewegen. Schwarz gekleidet, mit Transparenten und dem Vorsatz, die Anreise der Gipfel-Teilnehmenden mit Blockaden zu verzögern. Doch sie kommen nicht weit. In der Schnackenburgallee steht ihnen eine Polizeieinheit aus Schleswig-Holstein gegenüber. Die Demonstrantinnen und Demonstranten biegen in den Rondenbarg ab, auch dort warten Polizisten. Die rennen los, auf den Aufmarsch zu. Wasserwerfer von hinten, Schlagstöcke von vorne. Die Demonstrierenden geraten in Panik. Sie versuchen zu fliehen. Viele rennen eine Böschung hoch, verfolgt von Polizistinnen und Polizisten in schwerer Montur. Andere springen panisch von einer Mauer und ziehen sich dabei Knochenbrüche zu. Elf G20-Kritikerinnen und -Kritiker kommen schwer verletzt ins Krankenhaus. Der Angriff der Polizei „kam für uns aus dem Nichts“, schreibt Julia Kaufmann dazu später in dem Buch Das war der Gipfel des Hamburger Verlages Assoziation A.
Die Polizei gibt eine andere Version zu Protokoll. In dieser haben zuerst die Demonstrierenden die Polizisten attackiert. Der rigorose Einsatz ist nur eine Reaktion, die späteren Verletzungsopfer sind Gewalttäter. Die Staatsanwaltschaft klagt 76 Männer und Frauen an, gegen die ersten fünf Beschuldigten beginnt am Donnerstag der Prozess vor dem Hamburger Landgericht.
14 Steine und Pyrotechnik sind damals am Rondenbarg auf Polizisten geflogen. Wer geworfen hat, ist unklar. Eines aber ist sicher: Die jetzt Angeklagten waren es nicht.
Der Rondenbarg-Komplex wird die Hamburger Justiz lange beschäftigen
Davon geht niemand aus, auch die Staatsanwaltschaft nicht. Dennoch drohen den drei Frauen und zwei Männern hohe Strafen. Sie sind wegen vieler Delikte angeklagt: schwerer Landfriedensbruch, tätlicher Angriff auf Polizeibeamte im besonders schweren Fall, versuchte gefährliche Körperverletzung, Bildung bewaffneter Gruppen, Sachbeschädigung. Das sind schwere Vorwürfe.
Der Rondenbarg-Komplex wird die Hamburger Justiz wohl noch lange beschäftigen. Das Gericht beginnt mit den jüngsten Angeklagten: Die Männer und Frauen waren damals 16 und 17 Jahre alt und damit noch Jugendliche. Ihr Prozess findet deshalb hinter verschlossenen Türen statt, die Öffentlichkeit ist ausgeschlossen. Bis mindestens Ende Februar wird die Jugendstrafkammer verhandeln, wahrscheinlich sogar noch länger. Einmal die Woche müssen die Angeklagten, die in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Hessen und Sachsen-Anhalt leben, nach Hamburg kommen.
Der Tag der Eskalation am Rondenbarg markiert den Höhepunkt der Ausschreitungen beim G20-Gipfel. Viele der Bilder von brennenden Autos und zertrümmerten Schaufenstern sind an diesem Tag entstanden. Entsprechend martialisch lesen sich die Anklageschriften. Schaut man sich jedoch an, was genau den einzelnen Beschuldigten zur Last gelegt wird, steht da oft nicht sehr viel. Den fünf aktuell angeklagten Männern und Frauen wird vorgeworfen, dass sie von mitgeführten Steinen und Pyrotechnik gewusst sowie deren Einsatz gegen Polizisten gebilligt haben und durch das Mitmarschieren in der geschlossenen Formation selbst zu Tätern geworden sind. Erst das gemeinsame Auftreten mit einheitlichem Erscheinungsbild, heißt es, habe den einzelnen Gewalttätern das Gefühl von Sicherheit und Stärke vermittelt und Deckung verschafft.
So war es auch schon beim Prozess um die Ausschreitungen auf der Elbchaussee, der im Juli nach eineinhalb Jahren Verhandlung vor dem Hamburger Landgericht zu Ende ging. Auch da lautete die zentrale Frage, ob den angeklagten Männern die Gewalt anderer zuzurechnen ist. Ob sie also schweren Landfriedensbruch begangen haben, weil sie schwarz gekleidet mitgelaufen sind. Ja, sagte dazu die Staatsanwaltschaft. Die Verteidigung widersprach: Das höhle das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit aus. Im Elbchaussee-Prozess erklärte die Kammer die Angeklagten schließlich für schuldig. In dem Fall lautete das Argument, dass der Aufmarsch, bei dem zahlreiche Autos abgebrannt wurden, von Anfang an nicht friedlich und auf Einschüchterung angelegt gewesen sei.
Auch im Rondenbarg-Komplex hat die Hamburger Justiz schon einmal versucht, die Frage des Landfriedensbruchs zu beantworten. Vor dem Amtsgericht Altona war der 19-jährige Italiener Fabio V. angeklagt, der vier Monate in Hamburg in Untersuchungshaft saß, weil er am Rondenbarg mitgelaufen war. Ehe es zum Urteil kam, ging die Richterin allerdings in Mutterschutz. Der Prozess wird in Altona neu aufgerollt. Wann, steht noch nicht fest.
Ebenfalls ungewiss ist, wann die anderen 70 Männer und Frauen aus dem Rondenbarg-Aufmarsch vor Gericht gestellt werden. Und wie dann die rechtliche Lage ist. Nach dem Elbchaussee-Urteil sind alle Beteiligten in Revision gegangen. Sollte der Bundesgerichtshof in absehbarer Zeit über den Fall urteilen und sich zu der Frage äußern, inwieweit einzelnen Demonstrierenden die Ausschreitungen anderer zuzurechnen sind, könnte das die Linie für künftige Hamburger Prozesse vorgeben.
Einer der jetzt fünf Angeklagten gehörte übrigens zu den Rondenbarg-Demonstrierenden, die damals verletzt im Krankenhaus gelandet sind. Anklagen gegen Polizisten, die an dem Einsatz beteiligt waren, gibt es keine.
Quelle: https://www.zeit.de/hamburg/2020-12/g20-krawalle-hamburg-prozess-bahrenfeld-rondenbarg-eskalation-landgericht-aufmarsch
passiert am 02.12.20