Recht und Herrschaft – ist das eine ohne das andere denkbar?
In der GWR 455 erschien der, mit dem Pseudonym „Advocado“ unterzeichnete, Artikel „Baumbruch, Kohleabbruch oder Radbruch? Die gerechte Sache der Aktivist*innen“. Darin sind ebenso wichtige Fragen, wie widersprüchliche Antworten enthalten.
„Advocado“ möchte eine Antwort auf die Frage finden, die lautet: „Was aber, wenn man sich des Rechts bedient, um insbesondere staatliches Handeln zu legitimieren, welches bei ‚genauerer‘ Betrachtung Unrecht darstellt?“ Die Antwort meint er beim Staatsrechtler Gustav Radbruch zu finden: „Sollte jedoch der Widerspruch des geschriebenen Rechts zur Gerechtigkeit ein ‚unerträgliches Maß‘ erreicht haben, muss es als ungerechtes Recht weichen und darf nicht angewandt werden.“
Die Frage inwiefern Berufung auf das Rechtssystem ein Mittel gegen die staatliche Gewalt sein kann stellt sich gerade in vielen Teilen der Welt. Bei den seit über die einem halben Jahr andauernden Protesten in Belarus sind bisher sechs Menschen umgekommen, sechs weitere spurlos verschwunden und an die 30.000 festgenommen worden. Die Zahlen der Verletzten und Gefolterten sind im dreistelligen Bereich. In dieser Situation, scheint es das Naheliegendste zu sein, auch für viele Anarchisten, sich auf die Menschenrechte zu berufen. Dem Staat bzw. dem Staatspersonal soll damit gesagt werden, dass er nicht tun darf, was er macht. Dass es ein sehr schwaches Mittel gegen den Staat ist, der sich gerade im Notstand sieht, wissen eigentlich auch die überzeugtesten Menschenrechtsaktivisten. Sie wissen, dass sie bei der Judikative im Inland damit nichts erreichen und appellieren an die anderen souveränen Staaten, diese mögen gegen ihre „eigene“, von ihnen nicht gewählte und nicht gewünschte Regierung Druck aufbauen.1
Die Proteste im Hambacher Forst laufen unter scheinbar günstigeren gesellschaftlichen Bedingungen, dauern wesentlich länger und haben aber auch bereits ihren Opfertribut gefordert. Während dem belarussischen Staat als „Diktatur“ Legitimität abgesprochen wird, greift in der Bundesrepublik ein Rechtsstaat durchaus mit steigender Härte durch, der als solcher von der Mehrheit seiner Bürger sowie von den anderen Staaten anerkannt wird. Wenn einem Staatsbürger etwas passiert, was ihm nicht gefällt, schaut er als erstes nach den ihm zustehenden Rechten. Das ist in einer staatlich durchregierten Gesellschaft auch naheliegend. Denjenigen, die das Prinzip der Staatlichkeit in Frage stellen, sollte schon klar sein, dass die Frage nach den Rechten immer bedeutet „darf der Staat oder ein anderer Bürger mich gerade so behandeln?“. Was bereits einschließt: manchmal ist es so, dass die Antwort „ja“ lautet.
An dem Punkt unterscheiden sich diejenigen, die eine Gesellschaft ohne Staat anstreben von allen anderen Protestkräften. Denn während die einen einfach wollen, dass der Staat sie gewähren lässt, die Herrschaft ihrem Anliegen recht gibt, die Polizei sich an die Vorschriften hält – obwohl diese Vorschriften Gewaltanwendung gegen Ruhestörer vorsehen – haben die Anderen den Anspruch Polizei, Gerichte, Gefängnisse und die Gründe für ihre Existenz aus der Welt zu schaffen.
Selbstverständlich gibt es da Unterscheide zwischen den verschiedenen Staatsformen. In einer Diktatur, wie Belarus, werden politische Gegner der amtierenden Regierung als Feinde des Staates schlechthin behandelt – auch wenn nur die wenigsten von ihnen es wirklich sind. In der Bundesrepublik reicht das Bekenntnis zum Anarchismus nicht aus, um als „Terrorist“ verurteilt zu werden, man wird lediglich als „Extremist“ bespitzelt. Meinen dürfen alle was sie wollen, ihre Meinung als Politik praktisch umsetzen dürfen aber nur diejenigen, die durch ein Ermächtigungsverfahren in bestimmter Form (Wahlen) dazu berechtigt sind.
Der demokratische Staat unterwirft die Menschen auf seinem Gebiet
ganz prinzipiell als seine Bürger. Er behauptet den absoluten
Anspruch, den er an sie stellt und den er mit Gewalt untermauert,
indem er ihnen offiziell Freiheit gewährt. Indem er erklärt, dass seine Untertanen
Meinungen haben, sprechen, glauben und sich versammeln
dürfen, erklärt er seine Verantwortung dafür. Selbst der einfachste
Willensausdruck seiner Untertanen ist sein Anliegen, es gibt dazu Rechtslagen. Alles was Staatsbürger tun, lässt sich in „dürfen“ und „dürfen sie nicht“ kategorisieren.
Ganz richtig schreibt „Advocado“: „Es gibt kaum einen gesellschaftlichen Bereich, der nicht auch verrechtlicht ist. Aus diesem Grund sind Begriffe wie ‚rechtsfreie Räume‘ völliger Unfug.“ Wenn Staatsbürger ihr Recht auf Demonstrieren wahrnehmen, ist es etwas, das der Staat offiziell erlaubt hat. Verteidiger der Bürgerrechte postulieren eine ”Balance” zwischen Freiheit und Sicherheit, d.h. der Autorität des Staates. Damit tun sie so, als ob Freiheit und Sicherheit
zwei unabhängige Werte wären, wobei solche von oben gewährte Freiheit selbst ein Ausdruck der Autorität des Staates ist.
Recht ist nicht einfach das, worauf ein Individuum einen Anspruch erhebt. Es ist ein gesellschaftliches Verhältnis, das eine Gewalt (Sicherheitskräfte, richtende Instanzen) voraussetzt, die es garantiert. Schon darum können sich Menschen, die Gewalt und Herrschaft abschaffen wollen, nicht positiv auf „Rechte“ beziehen. Der häufig gemachte Hinweis, dass das ja nur eine Definition von „Recht“ sei und dass man Recht ja auch ganz anders definieren könne, heißt: Mich schert es nicht, was eine Sache bedeutet und die Frage, wie ich auf die Idee komme, ausgerechnet den Begriff „Recht“ als einen Schutz vor Gewalt und das Freihalten von Möglichkeiten zu „besetzen“, will ich mir auch nicht stellen. Jeder benutzt Wörter so wie es einem gefällt und die Waschmaschine heisst in Zukunft Butterbrot.
„Advocado“ ist selbst klar, dass die Radbruchsche Formel den Staat nicht kritisiert, sondern gerade die Prinzipien des Rechtsstaates gegen deren Verformung im „Unrechtsstaat“ abgrenzen möchte. Staat bleibt für Radbruch eine Notwendigkeit, er möchte daher Staatspolitik von Nazideutschland abgrenzen und Letzteres als „Verbrechen“, also als ein Verstoß gegen die Gesetze, betrachten. Ihm war natürlich klar, dass Millionen Menschen in Folge von Anwendung des damals geltenden Gesetzes starben. Sein Manöver ist es Naziherrschaft als Pervertierung der Staatlichkeit und nicht als ihre konsequente Anwendung zu sehen. Ein Ideal wird postuliert, danach wird die Wirklichkeit dann beurteilt und kritisiert.
„Advocado“ sollte auch klar sein, dass sein Text in einer Zeit entsteht, wo die Logik „mein Gerechtigkeitsempfinden gestattet es, geltendes Recht zu Unrecht und Widerstand zur Bürgerpflicht zu erklären“ ein verbreitetes Phänomen ist. Die Querdenker, die den Bundestag stürmen wollten, die armenischen Nationalisten, die nach einem verlorenen Krieg Jagd auf Regierung und Abgeordnete machten, die Trump-Anhänger, die das Kapitol besetzen – sie alle handeln nach dieser Logik, nur natürlich mit anderen Inhalten als „Advocado“ genehm ist. „Was Recht ist, entscheidet mein Empfinden“ ist keine Denkfigur der Herrschaftskritik.
Weil „Advocado“ das Recht eben nicht als etwas menschengemachtes sieht, wird im Artikel der Rechtsbegriff so ausgeweitet, dass es unsinnig wird. „Leben, Nahrung, Obdach und Lebensraum sind Rechte, die jedes Lebewesen für sich beanspruchen können muss. Es sind unabänderliche Kernrechte, deren Verstöße es zu ächten gilt und deren Schutz und Schutzversuche aus sich selbst heraus gerecht sind.“ Wie soll Recht auf Nahrung der Raubtiere mit dem Recht auf Leben der Beutetiere vereinbar sein? Wer stellt das Recht wieder her, wenn eine Rechtsverletzung stattfand? Können Menschen mit Obdach versorgt werden, ohne dass ein anderes Lebewesen sein Obdach verliert? Was bedeutet überhaupt ein Recht auf Lebensraum?
Wenn „Advocado“ mit solchen Kategorien wie „Recht“, „unerträgliches Maß“, „(Un)Gerechtigkeit“ operiert, führt dies unweigerlich zur Frage, ob es sich objektiv bestimmen lässt, was „gerecht“, „unerträglich“usw. sei. Wenn dem nicht so sei, wäre ein durch nichts eingehegter Kampf unendlich vieler Rechtsansprüche, ethisch-moralischer Ideale und Gerechtigkeitsvorstellungen das Ergebnis. Eine andere Möglichkeit wäre den ideologischen, mit der Herrschaft unzertrennlich verbundenen, Gehalt dieser Begriffe offen zu legen.
1 Was auch nur deswegen funktioniert, weil die Regierungen dieser Staaten ein ganz offenes Interesse an einem Personal- und Kurswechsel in der belarussischen Führung haben.