Gorillas Start-up: Die neuen Verteilungskämpfe
Das Berliner Start-up Gorillas verspricht Lebensmittellieferungen in unter zehn Minuten und baut dazu in Wohnvierteln hyperlokale Logistikzentren auf. In Berlin-Kreuzberg zeigen sich die Auswirkungen auf den öffentlichen Raum.
In Berlin kann man gerade die Expansion des Start-ups Gorillas beobachten, samt diverser Nebenwirkungen für den öffentlichen Raum. Das Unternehmen wirbt damit, innerhalb von zehn Minuten Grundbedarf des täglichen Lebens nach Hause zu liefern. Gerade in Pandemiezeiten ist das ein Service, für den es eine große Nachfrage gibt, auch wenn in Berlin an jeder Ecke ein Späti existiert, der ähnliche Produkte verkauft.
Wie viele andere Start-ups aus Berlin ist auch Gorillas keine hiesige Erfindung, sondern ein klassischer Copycat, der die Geschäftsmodelle erfolgreicher Vorbilder aus der Türkei (Getir) und den USA (goPuff) imitiert. Aber Gorillas hat etwas geschafft, was viele andere nicht schafften: In der letzten Investitionsrunde hat das Unternehmen durch eine Finanzspritze in Höhe von 244 Millionen Euro so schnell wie kein anderes Start-up in Deutschland eine Milliardenbewertung erhalten und gilt damit als Einhorn.
Mit dem Geld soll die Expansion finanziert werden. Bis Mitte des Jahres will Gorillas „in über 15 europäischen Städten mit mehr als 60 Warenlagern“ vertreten sein. Damit hat man auch die Möglichkeiten, die Supermarkt-Lieferkonkurrenz von Rewe oder Edeka teilweise durch Kampfpreise zu unterbieten. In Berlin gibt es aktuell 14 Standorte, weitere sind schon geplant.
Copycats kämpfen um unsere Innenstädte
Inwiefern das Geschäftsmodell nachhaltig ist, ist unter Branchenspezialist:innen umstritten. Zu klein seien die Margen und zu groß der administrative Overhead, um mal eben Lieferungen für 20 Euro oder eine Avocado durchzuführen. Derzeit kostet das eine Gebühr von 1,80 Euro, ein Crowdworker dürfte rund eine halbe Stunde damit beschäftigt sein.
Wahrscheinlicher ist: Mit Venture-Capital wird wieder eine Blase finanziert, die man zuvor bereits im Kampf um die Marktführerschaft bei klassischen Lieferdiensten beobachten konnte. „Move fast and break things“ dürfte die Devise sein, schnell wachsen, expandieren und dann irgendwann teuer an einen kommenden Monopolisten verkaufen. Oder das Rennen gegen die Konkurrenz verlieren und das Geld abschreiben. Aber das aggressive, auf Expansion ausgelegte, Geschäftsmodell kann Nebenwirkungen haben.
Das sieht auch Dominik Piétron so, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt Universität zu Berlin und am Einstein Center Digital Future solche Geschäftsmodelle erforscht: „Das Winner-takes-it-all-Geschäftsmodell von Gorillas ist alles andere als nachhaltig. Wenn erst ein lokales Monopol aufgebaut ist oder das Vertrauen der Investoren sinkt, werden die Preise anziehen – dann sind aber andere nachhaltigere Versorgungsstrukturen vielleicht schon weggebrochen.“ Gegen die VC-subventionierten Kampfpreise und die Bequemlichkeit vieler Menschen könnten auch lokale Kiez-Läden im Nachteil sein.
Gorillas ist natürlich nicht das einzige Start-up dieser Art. Mit Flink und Grovy gibt es bereits weitere deutsche Copycats der Copycat im Kampf um diesen Markt. Flink konnte zuletzt 43 Millionen Euro Venture Capital einstreichen und plant jetzt ebenfalls eine Expansion in die Innenstädte. Und auch das internationale Vorbild Getir aus der Türkei plant eine Expansion nach Berlin.
Opfer sind häufig Wohnviertel, in denen die hyperlokalen Logistikzentren entstehen und Crowdworker:innen die Bürgersteige verstopfen. Für diese sind solche Jobs in der Pandemie manchmal die einzigen Möglichkeiten zu überleben, während die Kultur und Gastronomie lahmgelegt sind.
Lärmprobleme und Einschränkungen der Verkehrssicherheit
Die Expansion geht zu Lasten der Anwohner:innen, die auf einmal neben einem Logistikzentrum aufwachen, wo gestern noch ein leeres Ladenlokal war. Ein Standort in Berlin-Friedrichshain musste bereits Mitte März geschlossen werden, weil sich viele Anwohner:innen erfolgreich beschwert hatten. Im Prenzlauer Berg gibt es vergleichbare Beschwerden über Lärmbelästigungen und Einschränkungen der Verkehrssicherheit durch Lieferverkehr in zweiter Reihe.
Wer dort in den vergangene Tagen vorbei kam, konnte beobachten, wie der halbe Bürgersteig von Fahrrädern blockiert wurde , auf der anderen Hälfte standen die Gorillas-Crowdworker:innen Schlange, um ihre Auslieferung in Empfang zu nehmen. Drumherum türmten sich Paletten.
Während der Standort im Prenzlauer Berg an der großen Zufahrtsstraße Prenzlauer Allee liegt, fällt ein Standort in Kreuzberg am Lausitzer Platz deutlicher auf. Über die dortige Situation berichtete zuerst der Tagesspiegel und auch im Supermarktblog von Peer Schrader kommen der Standort und seine Probleme vor.
Dort sitzt das Unternehmen seit wenigen Monaten in den kleinen Räumlichkeiten einer alten Bankfiliale. Anwohner:innen berichteten, dass sie mittlerweile neben oder über einem Logistikzentrum mit allen Konsequenzen leben müssen. Aufgrund der geringen Lagerfläche kommen zahlreiche Lieferungen über den Tag verteilt. Ab fünf Uhr morgens bis in den Abend hinein hört man hier rangierende LKWs, Trolleys und Paletten auf Kopfsteinpflaster, brummende Kühlaggregaten und piepsende Laderampen.
Bei einem Besuch vor Ort konnten wir gleich zwei Anlieferungen parallel sehen, wobei an der von Fußgänger:innen und Fahrradfahrer:innen vielfach frequentierten Kreuzung an zwei Seiten LKWs in zweiter Reihe standen und ein Überqueren der Straße erschwerten. Einige Paletten blockieren den Platz auf dem Bürgersteig zwischen den vielen Fahrrädern. An einem Fenster über dem Ladenlokal hängt bereits ein Transparent als Protest gegen den Lärm und die Einschränkungen: „Fuck off Gorillas“.
Privatisierung des öffentlichen Raums
Gebäude stehen rund zwei Dutzend eBikes von Gorillas. Das Unternehmen hat noch einen großen Lieferwagen auf dem Parkplatz davor geparkt, in dem die Fahrräder über Nacht gelagert werden. Gegenüber dem Supermarktblog erklärt Gorillas, dass man damit doch Platz auf dem Bürgersteig schaffen würde. Eine Anwohnerin sieht das anders: „Es kann doch nicht einfach ein Unternehmen durch diesen Trick eine kostenlose Dauer-Lagerzone auf einem der knappen Parkplätze in der Umgebung schaffen“, schimpft sie.
Zu den Dienstfahrrädern kommen viele private Fahrräder der Crowdworker:innen, die ebenfalls an der Kreuzung parken. Alleine mit den ausgestellten Dienstfahrrädern, dem Lieferwagen und dem auf den Bürgersteig verlagerten Ruheraum für die Mitarbeiter:innen samt Bänken dürfte das Unternehmen im öffentlichen Raum eine mindestens vergleichbare Menge an Platz auf Kosten der Allgemeinheit privatisieren, wie es in der ehemaligen Bank angemietet hat.
Abstand halten ist auf dem dortigen Bürgersteig teilweise nicht möglich. Anwohner:innen müssen sich den Eingang zu Bankautomaten der ehemaligen Sparkasse mit dem Start-up teilen und um abgestellten Lieferpaletten und Crowdworker:innen herum manövrieren, die dort teilweise ohne Maske stehen oder auf Bänken auf ihren nächsten Einsatz warten. „Ein solches Logistikzentrum mit massivem Lieferverkehr gehört nicht mitten in ein Wohnviertel“, kommentiert eine erboste Nachbarin.
Schlechte Arbeitsbedingungen und Bezahlung
Gorillas-Gründer Kağan Sümer inszeniert sich selbst gerne als Crowdworker Nummer 1. Das klingt in Start-up-Blogs und Podcasts gut, die Praxis scheint aber weniger Teamplay zu sein. Crowdworker:innen berichten von Videoüberwachung, fehlenden Ruheräumen und vor allem massivem Stress für einen Stundenlohn von 10,50 Euro, knapp über dem Mindestlohn. Kein Wunder, wenn das Unternehmen verspricht, innerhalb von zehn Minuten ab Bestellung zu liefern – auch wenn das in der Realität selten in dieser Zeit geschieht, wie viele Nutzer:innen-Reviews zeigen. Wenigstens müssen sie ihre Fahrräder nicht selber bezahlen, wie dies bei anderen Lieferservices üblich ist. Der Spiegel schrieb trotzdem, die Arbeitsbedingungen seien „teilweise die Hölle“. Wir hätten gerne noch die Sichtweise des Unternehmens in diesem Artikel berücksichtigt, aber Gorillas reagierte nicht auf unsere Presseanfrage.
In Kreuzberg zeigt sich das konkreter. Crowdworker:innen stehen oder sitzen auf Bänken vor dem Ladenlokal auf dem Bürgersteig und warten in schwarzer Uniform wie Tagelöhner:innen auf ihre nächsten Aufträge, die jederzeit kommen können. Dann holen sie ihre Lieferung dicht gedrängt in den viel zu kleinen Räumlichkeiten ab und springen auf das nächste freie Fahrrad, während Fahrer:innen zurückkommen und ihr Fahrrad abstellen.
Anwohner:innen beschweren sich, dass sie an diesem Drehpunkt ständig auf Fahrradfahrer:innen aufpassen müssen, die von allen Seiten kommen. Besprechungen werden, wohl mangels Platz, in kleinen und größeren Gruppen häufig auf dem Bürgersteig abgehalten.
Die Soziologin Joanna Bronowicka forscht an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Sie hat die Arbeitsbedingungen von Fahrrad-Lieferanten bei früheren Marktkämpfen erforscht. Sie beschreibt diese Crowdworker:innen als teilweise gut ausgebildet und bezeichnet diese Engagements als „Erasmus-Minus“. Man komme häufig zum Studieren nach Berlin und fährt Fahrrad, weil es das kleinere Übel gegenüber anderen „Scheiß-Jobs“ sei, von denen es im Moment mangels Gastronomie ohnehin nicht viele gäbe. Auf lange Sicht wäre das ein Horrorjob, sagt Bronowicka, aber auf kurze Sicht könnte es individuelle Vorteile und Flexibilität bringen. Lange Jobverhältnisse würden dabei in der Regel nicht entstehen, weil VC-finanzierte Start-ups ohnehin lieber Menschen in der Probezeit beschäftigen wollen, um sich weniger mit Arbeitnehmer:innenrechte herumschlagen zu müssen.
Lieferservices haben gerade in einer Pandemie Konjunktur, wenn Restaurants dauerhaft geschlossen bleiben und viele Menschen nicht mehr zum Einkaufen raus wollen – oder abends nicht mehr dürfen. Doch das Problem wird von der Politik bisher kaum als solches erkannt. Hyperlokale Logistikzentren sind noch ein neues Phänomen, das in alten Bau- und Gewerbeordnungen nicht berücksichtigt wurde. Ämtern fehlt neben dem Bewusstsein für die Problematik noch die Handhabe, um mit der Situation umzugehen, wenn über Nacht ein Ladenlokal zu einem Logistikzentrum mit allen Nebenwirkungen für die jeweilige Nachbarschaft umgewandelt wird. Und in Corona-Zeiten sind Berliner Ordnungsämter mit anderen Fragen überlastet.
Wem gehört die Stadt?
Unternehmen wie Gorillas sehen sich als direkte Konkurrenz zu Supermarktketten. Aber der direkte Vergleich mit einem Supermarkt ohne App und Fahrradfahrer:innen hinkt etwas. Denn diese haben auch in Innenstädten meist eine eigene Infrastruktur, um Anlieferungen über den eigenen Parkplatz zu gewährleisten und privatisieren nicht einfach den öffentlichen Raum für ihre Geschäftsinteressen.
In der gesellschaftlichen Debatte spielen die neuen Marktkämpfe bisher noch keine Rolle, dabei haben sie ein großes Potential, den sozialen Frieden in Innenstädten zu stören. Erinnerungen an verwandte Debatten werden wach, in denen die Kommunalpolitik teils sehr lange brauchte, um Antworten zu finden. „Die tatsächlichen Kosten werden bei Gorillas externalisiert“, sagt Wissenschaftler Dominik Piétron. Fahrer:innen arbeiteten Tag und Nacht zu Niedriglöhnen und die Logistik werde auf die Bürgersteige verlagert. „Die Städte sollten überlegen, ob diese Einnahme des öffentlichen Raums nicht analog zu E-Scooter und Bike-Sharing-Diensten über eine Sondernutzungserlaubnis geregelt werden kann“, gibt er als Vorschlag mit.
Gorillas argumentiert gegenüber Anwohner:innen in Kreuzberg, dass man die Sorgen ernst nehme und durch zusätzliche Standorte in der Nähe für eine Entlastung sorgen würde. Man sei bemüht, dass Lieferungen nicht mehr vor sechs Uhr stattfinden würden. Allerdings widerspricht das Versprechen dem eigenen Geschäftsmodell und den hohen Investitionen durch Venture Capital: Dieses lässt Barmherzigkeit und Rücksicht auf Anwohner:innen in Wohnvierteln nicht zu, sondern setzt auf eine möglichst effektive Auslastung der Ressourcen, um möglichst schnell zu wachsen, viel Geld zu verdienen und die Investitionen zu vergolden.
Zusätzliche Standorte werden das Problem für einzelne Viertel nicht lösen, sondern die Probleme stattdessen immer weiter verteilen. Gewinner sind dann die Investor:innen, die nicht vor Ort wohnen. Sonst würden wohl auch sie sich dagegen wehren.
https://netzpolitik.org/2021/gorillas-start-up-die-neuen-verteilungskaempfe/
passiert am 29.05.2021