Lebensgefahr nur als Vorwand? – Die kalte Räumung des größten Berliner Obdachlosenlagers

Observierte „Szenekneipen“, ein nahender Baubeginn: Interne Dokumente und Mails zeichnen ein neues Bild von der Auflösung des Camps an der Rummelsburger Bucht.

Eine Räumung, die keine sein sollte. Eine Nacht-und-Nebel-Aktion bei klirrender Kälte und mit Polizei-Drohne. Die Auflösung des wohl größten Obdachlosenlagers Deutschlands an der Rummelsburger Bucht in Berlin beschäftigt weiter die Politik. Einblicke in interne Unterlagen und den E-Mail-Verkehr zwischen Bezirksstadtrat und Investor geben neue Details preis: Der Bezirk hatte eine Räumung vorbereitet, die Polizei „Szenekneipen“ observiert und auf dem Gelände 27 Obdachlose gefunden, die eigentlich gar nicht mehr dort waren.

In der Nacht vom 5. auf den 6. Februar war das Lager in Lichtenberg „evakuiert“ worden. So nennen es zumindest der Bezirk, Sozialstadtrat Kevin Hönicke (SPD) und Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke). Am Vorgehen gegen das von rund 100 Personen bewohnte Lager war Kritik laut geworden. Der Tagesspiegel hatte nun Einblick in die Akte aus dem Lichtenberger Rathaus und in interne Mails zwischen Stadtrat und Investor. Sie ermöglichen einen neuen Blick auf eine turbulente und kalte Nacht.

Bezirk nennt Lebensgefahr als Grund der Auflösung

Mit Hilfe von Polizei und Sozialarbeitern waren die obdachlosen Menschen von Freitag auf Samstag ohne Vorwarnung aus ihren Zelten geholt und mit Bussen in eine Notunterkunft gebracht worden. Nach offiziellen Darstellungen des Bezirksamts und von Stadtrat Hönicke hatte es sich um eine spontane Aktion gehandelt, die aufgrund des bevorstehenden Kälteeinbruchs einberufen wurde und das Leben der auf der Brache befindlichen Personen schützen sollte. Es bestünde Lebensgefahr beim Übernachten im Freien, schrieb das Bezirksamt in einer Pressemitteilung, daher habe man sich dazu entschlossen, das Lager aufzulösen und Plätze in einer Kältehilfereinrichtung zur Verfügung zu stellen.

Doch die 150 Seiten dicke Akte aus dem Bezirksamt, die der Tagesspiegel in weiten Teilen einsehen konnte, legt nahe, dass der „Umzug“, der den Bewohner:innen „angeboten“ wurde, nicht ganz so freiwillig erfolgte, wie es die Formulierungen aus der Pressemitteilung suggerieren – und neben der Sorge um Leib und Leben auch das Interesse des Investors eine Rolle spielte, sein Eigentum nutzen zu können.

Das Gelände gehört überwiegend dem Unternehmen Coral World, das ein „Informationszentrum über den Lebensraum Wasser“ bauen möchte, eine Touristenattraktion mit Parklandschaft und Korallengarten. Längst ist das Projekt zu einem weiteren Symbol für den Konflikt zwischen privater Nutzung von Brachen und dem Verschwinden alternativer Räume in Berlin geworden. Zehntausende haben gegen das Vorhaben unterschrieben.

Eine Lagerauflösung war schon im Januar ein Thema

Dem Tagesspiegel vorliegende Mails zeigen, dass Stadtrat Hönicke mit der Eigentümerfirma in Kontakt stand und sich über das Szenario einer Lagerauflösung bereits im Januar ausgetauscht hatte. Auf Twitter betonte Hönicke stets, es habe sich um keine Räumung gehandelt. Allerdings hatte er bereits eine Räumungsverfügung unterschrieben: für den Fall, dass die Menschen die Brachfläche nicht verlassen sollten. Da am Ende jedoch alle Obdachlosen in die bereitgestellten Busse gestiegen seien oder das Gelände anderweitig verlassen hätten, sei die Verfügung nicht zum Einsatz gekommen, so Hönicke.

Auf Nachfrage sagt Hönicke dazu: „Eine Räumung wurde rechtlich vorbereitet und gesichert, von mir aber nie umgesetzt.“ Er habe diese Räumungsverfügung auch nicht angefertigt. Allerdings steht sein Name darauf, auf dem Briefkopf steht seine Abteilung. Hönicke erklärt dazu: „Die Räumungsverfügung wurde vom Rechtsamt vorsorglich und mit Kenntnis des Bezirksbürgermeisters Michael Grunst (Linke) und im Beisein seiner Referentin am 5. Februar erstellt. Sie stammt daher nicht aus meiner Abteilung bzw. aus meiner Hand.“ Die Verfügung sei nur hinterlegt gewesen, damit die Polizei bei Bedarf hätte handeln können. „Ich habe sie aber nie rausgegeben oder angewendet. Das hatte ich auch nicht vor.“

Einsicht in die Akte hatte auch Hendrikje Klein, Abgeordnete der Linken aus Lichtenberg. „Nun weiß ich endlich, dass Stadtrat Hönicke nicht die volle Wahrheit sagte“, teilte sie dem Tagesspiegel mit. Der von Hönicke unterschriebene Räumungsbescheid sowie eine von ihm ebenfalls unterschriebene Anordnung, die Bauten auf dem Grundstück zu entsorgen, würden deutlich zeigen, was der Stadtrat in dieser Sache wollte. „Das hat er öffentlich nie wirklich zugegeben. Warum nicht? Das macht mich wütend“, sagt Klein.

Polizei verwies 27 Personen des Geländes

In den Akten ist zu lesen, dass der vom Bezirksamt zur Auflösung des Lagers beauftragte Katastrophenschutz am 5. Februar ein Amtshilfeersuchen zur „Vollstreckung einer Räumungsverfügung“ bei der Berliner Polizei gestellt hatte. Dieses wurde vom Katastrophenschutzbeauftragten zwar nicht unterschrieben, am 6. Februar um 3.30 Uhr in der Nacht jedoch persönlich der Polizei übergeben, wie eine unterschriebene Notiz auf dem Dokument belegt. Darin heißt es: „Für den Fall, dass Sie das Grundstück nicht unverzüglich räumen, wird die Räumung durch unmittelbaren Zwang angedroht.“

Wie aus einem Fax aus derselben Nacht hervorgeht, hatte das Bezirksamt das Gelände um 0.40 Uhr bei der Polizei als „personenfrei“ gemeldet. Daraufhin wurde die Brache mit Wärmebildkameras abgesucht und weitere Personen festgestellt, die das Lager doch noch nicht freiwillig verlassen hatten. Um 0.42 Uhr erfolgte daher eine Begehung des Geländes durch Einsatzkräfte der Polizei – 27 Personen wurden von der Polizei verwiesen, an zwei Orten eine „nicht geringe Menge“ Betäubungsmittel sichergestellt. Insgesamt hatten sich 95 Menschen im Lager befunden, schrieb der Polizeiführer. 45 Stunden lang waren die Beamten im Einsatz. In dem Fax heißt es zudem: „Abrissarbeiten auf dem Gelände geplant.“

Stadtrat Hönicke versichert auf Nachfrage, er habe erst am nächsten Morgen erfahren, dass die Polizei noch Leute auf dem Gelände hatte ausfindig machen können. Seine Ansage an die Einsatzkräfte sei deutlich gewesen: „Keine Räumung.“ In der Nacht der Lagerauflösung sei alles sehr schnell und durcheinander gelaufen.

Wie aus dem internen Protokoll der Einsatzbesprechung zu erfahren ist, waren der Verfassungsschutz sowie die Senatsinnenverwaltung mit der Aktion „Auflösung des Obdachlosenlagers“ vertraut. So war beispielsweise ein Hubschrauber „zur Lageklärung“ angefordert worden, der jedoch aufgrund des Wetters nicht hatte aufsteigen können. Deshalb kam eine Handdrohne der Polizei zum Einsatz. Auch in diesem Protokoll wurde festgehalten, dass geplant war, die Hütten und Zelte der Obdachlosen zu zerstören: „Behausungen sind nicht sicher und sollten zum Schutz entfernt werden. Räumungsbescheid liegt vor.“

Linke im Visier: „Szenekneipen sind bepostet“

Weiter ist den Dokumenten zu entnehmen, dass die Polizei Kneipen in Berlin observierte: „Sicherungsmaßnahmen durch Polizei ergriffen, Szenekneipen sind bepostet“, heißt es wörtlich. Dies bedeutet, dass Beamt:innen damit herauszufinden beauftragt waren, ob von der linken Szene eine Gefahr für eine Durchführung der Lagerauflösung zu erwarten war, ob die Szene Wind von der anstehenden Aktion bekommen hatte und Proteste plante. Welche Kneipen unter Beobachtung standen, wird nicht gesagt.

„Die Szene“ wurde von der Auflösung des Lagers am 5. Februar jedoch wohl eher überrascht. Jedenfalls formierten sich lautstarke Proteste erst danach. Viele Protestierende glaubten Bezirk und Senatsverwaltung nicht, dass es sich bei der Lagerauflösung um eine Aktion zum Schutz vor dem Kältetod handelte, sondern um eine Räumung, um die Interessen von Coral World durchzusetzen.

Die Anordnung zum Abriss war bereits formuliert

Am Morgen nach der Lagerauflösung gab es Tumulte vor Ort, da Zelte und Behausungen der Obdachlosen zerstört wurden, ihr Eigentum teilweise zerschlagen und verbrannt. Nicht nur zahlreiche Demonstrierende sahen das und hielten es auf Video fest, sondern auch mehrere Journalist:innen beobachteten den Vorgang. Trotzdem antwortete Stadtrat Hönicke am 6. Februar um 15.53 Uhr auf Twitter: „Es wird nicht abgerissen.“

Am 8. Februar twitterte Hönicke: „Meine Ansage war, ab Freitag das Gelände zu sichern, und Samstagmorgen habe ich als Erstes vor Ort noch mal deutlich Arbeiten zum Abriss untersagt.“ Aus einem Dokument in der Bezirksakte geht jedoch hervor, dass Hönicke am Samstagmorgen, 6. Februar, um 8.15 Uhr dem Katastrophenschutz schriftlich anordnete, die „behelfsmäßigen Bauten zu entfernen und zu entsorgen“. Denn es bestünde die Gefahr, dass die Bewohner:innen zurückkehren und ihre Unterkünfte erneut beziehen könnten. Hönicke hat das Dokument unterschrieben. Dort steht weiter: „Die sofortige Vollziehung wird angeordnet. Ein ordentlicher Bescheid zum Abriss erfolgt im Laufe des Tages.“

Auf Nachfrage sagt Hönicke dazu, erst der ordentliche Bescheid wäre ein rechtskräftiges Dokument gewesen. Das Schriftstück, das er unterschrieben habe, habe keine Freigabe vom Rechtsamt bekommen, es sei somit nicht wirksam und „die in dem Schreiben formulierte Verfügung nie formuliert“ worden. Generell habe er in diesen zwei Tagen viel gelernt. Zum Beispiel, solche Sachen nicht einfach so zu unterschreiben.

Keine Gefahr mehr: Rechtsamt lehnte Abriss ab

Das Rechtsamt hatte den Abriss des Lagers abgelehnt, weil die Obdachlosen das Gelände ja verlassen hatten und dieses gesichert sei – daher bestehe keine Gefahr einer Rückkehr oder eines Kältetodes, und die Hütten müssten nicht zwangsläufig unmittelbar abgerissen werden. Um 11.20 Uhr hatte Hönicke mit dem Rechtsamt telefoniert und daraufhin vereinbart, „dass wir nur die Fläche sichern und nichts abreißen, was nicht der Sicherung dient. Keine Freigabe zum Abriss von Gegenständen auf der Fläche“.

Wenig später teilte Hönicke dies einer Vertreterin von Coral World mit, der Stadtrat befand sich nun vor Ort an der Rummelsburger Bucht und wurde von Protestierenden auf die Abrissarbeiten hingewiesen, die bereits in vollem Gange waren. Bagger und Arbeiter zerstörten Zelte und Behausungen und verbrannten sie teilweise. Erst nachdem vier Demonstrierende einen Bagger besetzt hatten, wurden die Abrissarbeiten zunächst gestoppt.

„Als ich die Bagger sah, habe ich mich total erschrocken“, erzählt Hönicke heute. Coral World habe ihm daraufhin mitgeteilt, dass einige Zelte und Behausungen von selbst zusammengefallen seien, man habe lediglich auf dem Gelände aufgeräumt. Nun habe er erneut betont, dass keine Zelte angefasst werden sollten. Wenig später vereinbarte man, dass die ehemaligen Brachenbewohner:innen noch acht Tage lang ihr Hab und Gut von der Fläche holen konnten – unter Beobachtung und zu festgeschriebenen Zeiten.

Im Mai stellte Coral World einen Bauantrag

Hönicke geriet auf Twitter auch hinsichtlich der Frage in Erklärungsnot, warum die Abrissarbeiten weiterhin ausgeführt wurden, obwohl er öffentlich sagte, es werde nicht abgerissen. Er habe von der Eigentümerin die Zusage, dass nicht abgerissen werde, schrieb Hönicke, er habe Arbeiten zum Abriss deutlich untersagt. Neben dem privaten Sicherheitsdienst waren auch Mitarbeiter des Bezirksamts beteiligt. Diese wies Hönicke vor Ort um 12.06 Uhr an, nur „Sicherheitsmaßnahmen“ auszuführen. Er sagt auch: „Die Fläche gehört Coral World.“

Das Unternehmen hatte das Grundstück 2016 von der Stadt gekauft und im Mai 2021 den Bauantrag für die geplante Touristenattraktion gestellt. Ein Architekturbüro vom Kurfürstendamm war im Namen der Eigentümerin damit beauftragt, die Situation vor Ort zu klären, wozu ein Sicherheitsdienst engagiert wurde. Noch am Samstagmorgen, 6. Februar um 9.26 Uhr, schrieb Hönicke eine Mail an das Architekturbüro: „Anbei meine klaren Forderungen jetzt: Ich erwarte, dass die Flächeneigentümer ihre Flächen sichern und unerlaubtes Bewohnen nicht mehr zulassen.“

Aus der Mail geht zudem hervor, dass der Stadtrat und das Architekturbüro bereits seit Längerem im Austausch über die Vorgehensweise stehen: „Den Zustand, den Sie haben wollten, haben wir heute Nacht hergestellt. Ich erwarte jetzt unmittelbares und unverzügliches Handeln!“, schrieb Hönicke. Gemeint war die Auflösung des Lagers in der vorangegangenen Nacht. Ein halbes Jahr später sagt Hönicke dazu auf Nachfrage: „Ich habe gelernt, in solchen Stresssituationen keine Mails zu schreiben. Ich habe nicht im Auftrag dieses Unternehmens gehandelt.“ Gemeint sei, dass man eine menschenleere Fläche geschaffen habe. Nun habe er von Coral World erwartet, dass die Firma die Fläche sichert, aber keine Behausungen abreißen lässt.

Hönicke schrieb in der Mail weiter, dass er den Bauantrag von Coral World unterstütze und diesbezüglich keine Aufschiebung dulde. „Ich glaube, dass ich in den letzten Wochen alles ermögliche, dass Leute zu ihren Baumfällungen und Baugenehmigungen kommen.“ Dass der Stadtrat ein Befürworter der Bebauungspläne ist, machte er auch in einer Antwortmail an Coral World deutlich: „Ich versuche mit vollem Einsatz, dass der Bebauungsplan Ostkreuz Realität wird.“

An dem E-Mail-Verkehr zwischen Stadtrat Hönicke und dem Architekturbüro nahm auch Gabriele Thöne teil, die Projektleiterin von Coral World wurde immer CC gesetzt. Thöne war bis 2006 Staatssekretärin des damaligen Finanzsenators Thilo Sarrazin (SPD). Von 2008 bis 2013 war sie im Vorstand von Zoo und Tierpark Berlin. Bereits am 15. Januar hatte das Architekturbüro an Stadtrat Hönicke geschrieben: „Der Zeitpunkt ist gekommen, das Camp aufzulösen.“

Stadtrat pochte auf Ersatzunterkünfte

Es sei das „gemeinsame Konzept“ gewesen, Konflikte zu vermeiden und den Leuten ihren Raum zu lassen, solange die Arbeiten nicht beginnen können, schrieb das Büro weiter. „Nun sind wir aber zu dem Zeitpunkt der Baurealisierung gekommen, für die das Feld geräumt werden muss. Da müssen Bezirk und Senat zusammenarbeiten und die Räumung zügig und vertraglich durchführen.“ Gefordert wurde, die Fläche zum 31. Januar geräumt zu haben. Zudem schickte das Architekturbüro einen Vorschlag für ein Schreiben, dass von Bezirk und Senat aufgesetzt werden sollte, um „die Camper“ über dieses Räumungsvorhaben zu informieren.

Hönicke antwortete jedoch auf die Mail, dass es kein „gemeinsames Konzept zum Umgang auf der Fläche“ gebe. Durch „umfangreiche Bemühungen“ des Bezirks sei das Obdachlosenlager immer wieder verkleinert worden, doch Coral World habe nie für eine Umzäunung gesorgt, wie es eigentlich in großen Runden abgesprochen gewesen sei. „Es ist mir im Gegenteil sogar so gar nicht nachvollziehbar, wieso diese Menschen, ohne ein ausreichendes Ersatzangebot bieten zu können, bei Temperaturen um den Gefrierpunkt und während einer Pandemie von dieser Fläche geräumt werden sollen“, schrieb Hönicke an Coral World am 15. Januar.

Das Lager wurde in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar aufgelöst und ist nun Geschichte. Ein Großteil der Bewohner:innen wurde zu einer Notunterkunft gefahren und später, solange die Kältehilfe andauerte, in einem Hotel untergebracht. Andere verließen die Stadt oder suchten sich anderweitig Unterkünfte. Hönicke beteuert: Ohne dieses Unterbringungsangebot hätte er die Auflösung nicht durchgeführt. Die Überreste der Lagerstätten wurden entsorgt, die Arbeiten für „Coral World Berlin“ haben begonnen. Gegen das Vorhaben gibt es weiterhin Proteste und Unterschriftensammlungen.

 

Von Robert Klages

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