Anarchistisch Deutsche Wohnen enteignen?!
Fragend streiten wir voran!
Deutsche Wohnen Enteignen, ein „Schritt in die richtige Richtung“? Oder ein Reformversuch, den es notfalls offen zu bekämpfen gilt? Eine Verarsche von Mieter*innen oder ein sinnvoller Schritt in der Radikalisierung der Bewegung? In den letzten Wochen ist in Berlin eine spannende schriftliche Diskussion um die Frage: Was tun mit Deutsche Wohnen & Co. enteignen (DWE), mit Beiträgen unterschiedlichster Anarchist*innen entstanden. Angefangen mit dem Rausschmiss* eines Unterschriftensammlers beim Kronstadtkongress (1) entstand eine Debatte, die längst über DWE hinausgeht und über das Verhältnis von uns Anarchist*innen zu Reformen handelt. Einige grundsätzliche Punkte unserer Sicht haben wir bereits in dem Text ‘DWE adé?!’ (2) ausgeführt. Mit diesem Diskussionsbeitrag wollen wir auf einige Fragen und Kritiken der letzten Beiträge (3 & 4) eingehen. Wie passen Reformen und Anarchismus zusammen? Was können konkrete nächste Schritte mit DWE sein? Wie wollen wir reale Veränderung bewirken? Hier kommen einige Vorschläge.
Vorneweg wollen wir einmal ausdrücken, dass wir uns freuen endlich diese Debatte um DWE zu führen. Wir stimmen dem Text ‘Enteignung und soziale Revolution’ darin zu, dass es an einer Vernetzung von Anarchist*innen in der Mieter*innenbewegung seit längerem mangelt. Gerade deshalb wünschen wir uns eine solidarische und konstruktive Diskussion ohne Polemik. Im Streit mag manchmal die Brücke zu tieferem Einverständnis liegen, jedoch sollte darüber nicht die Klarheit der Diskussion verloren gehen. Wir sind Gefährt*innen, wir glauben: Unsere Streitigkeiten sollten durch gegenseitige Rücksicht und konstruktive Kritik gekennzeichnet sein. Daher haben wir unseren Antworttext um die Fragen unserer Diskussionspartner*innen strukturiert.
1. Müssen wir zu Deutsche Wohnen enteignen eine grundsätzliche Konflikthaltung einnehmen, oder mit ihr ein Bündnis eingehen – auch wenn das mit Widersprüchen behaftet ist?
2. Wie holen wir Unterstützer*innen von DWE ab? Wie können wir mit ihnen den Weg der Hoffnung, Enttäuschung und Wut gehen und am Ende dafür sorgen, dass DWE zu mehr Politisierung statt zur Verdrossenheit führt?
3. Und, wenn wir da schon eine Strategie entwickeln, wie kommen wir dahin, sie umzusetzen. Wer sind unsere Verbündeten und wie sieht unsere Organisation aus?
Aus den anderen Texten in der Diskussion ist starke Kritik an DWE abzuleiten. Wir sind dankbar, darauf hingewiesen worden zu sein. Ja, wir müssen anerkennen, dass sich als Anarchist*innen auf DWE (bzw. die Idee dahinter) einzulassen, zunächst widersprüchlich erscheint. Dass sich Massenbewegungen oft entradikalisieren, dass die Kampagne DWE wie sie jetzt ist (bzw. nach Außen auftritt) bestenfalls eine Reform bewirkt. Ja, dass, wollen wir Sachen beim Namen nennen, ‚Deutsche Wohnen kaufen‘ der passendere Begriff ist – auch wenn wir fairerweise sagen müssen, dass angestrebt wird es unterm Marktwert und zwangsweise zurück zu kaufen. Und dass DWE andere Widrigkeiten des Wohnungsmarktes unbeleuchtet lässt, wie z.B. den Eigenbedarfskündigungen. Und natürlich, dass es letzten Endes alles am Kapitalismus liegt.
Als Anarchist*innen ist es unsere Aufgabe, das alles zu überwinden. Doch ist mensch schlechte Anarchist*in, wenn mensch sich über DWE freut, gegebenenfalls vielleicht sogar Hoffnung daraus schöfpt? Wir meinen: Nein! Wir glauben, die zögernde Unterstützung von Linksradikalen und Anarchist*innen für DWE rührt daher, dass es uns selbst an überzeugenden, breitenwirksamen und langfristigen eigenen Perspektiven fehlt. Ein offensiver Vorstoß, so reformistisch er auch sein mag, wird dankend angenommen. Wir würden sogar so weit gehen und sagen: Jetzt wo DWE da ist, haben wir eine Verantwortung, die Kampagne aufzugreifen – kritisch, versteht sich. Die Kampagne kam nicht primär aus einem anarchistischen Teil der Mieter*innenbewegung, beeinflusst aber die Bewegung als Ganzes, und zwar massiv. Ein Scheitern würde auf uns alle zurückfallen. Außerdem hat die Kampagne eine Idee gesetzt, bei der es sich aus unserer Sicht lohnt, anzuknüpfen. DWE könnte ein Schritt dahin sein Enteignungen von unten denkbar zu machen. Anarchistisch Deutsche Wohnen enteignen heißt, den von der Kampagne gemachten Anfang zusammen zu Ende zu führen und zu radikalisieren. Dafür müssen wir aber kämpfen, weder blindlings mit DWE, noch frontal gegen die Kampagne, sondern begleitend.
Auch wenn niemand von uns ernsthaft glaubt, dass die Kampagne – wie sie gerade ist – Deutsche Wohnen enteignen wird, auch wenn wir über den Begriff der Enteignung und den Weg dorthin sicher noch viel zu streiten haben, sind es jedoch die ‚Karten die uns zugeteilt wurden und mit denen wir jetzt spielen müssen‘. Das ist der Grundsatz, der uns durch diesen Text leitet. Wir müssen die Gegebenheiten erkennen und dann schauen, wie wir in ihnen handeln können – sodass wir am Ende und langfristig auch die Bedingungen dieses Spiels ändern können. Wer wissen will, wie wir das verantworten und wie genau wir das tun möchten, lese weiter.
(Ein Hinweis für Leser*innen mit weniger Zeit: Die Erste unserer drei Fragen beschäftigt sich mit der theoretischen Auseinandersetzung, die Zweite mit unseren praktischen Vorschlägen und die Dritte mit der geeigneten Organisierungsform. Viel Spaß!)
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1. Müssen wir zu Deutsche Wohnen enteignen eine grundsätzliche Konflikthaltung eingehen, oder mit ihr ein Bündnis eingehen – auch wenn das widersprüchlich ist?
Wir wollen Deutsche Wohnen & Co. Enteignen nicht retten. Das wollen wir hier ganz am Anfang klarstellen. Die Kampagne ist in vielen Punkten problematisch, da stimmen wir den anderen Texten zum Thema zu. Warum wir dennoch dagegen sind, die Kampagne unbeachtet vorbeiziehen zu lassen (5) oder Energie darauf zu verwenden, sich bloß rhetorisch von ihr abzugrenzen; warum wir vielmehr dafür plädieren, die Idee aufzugreifen, zu unterstützen und weiterzuentwickeln, wollen wir hier besprechen.
Die Kritik an DWE ist berechtigt.
Die Kritik an Deutsche Wohnen & Co. Enteignen ist klar. Sie dreht sich darum, dass die Kampagne parlamentarische Logik (Repräsentation) bedient, als Massenbewegung entradikalisierend wirkt und reformistisch ist.
Deutsche Wohnen Enteignen bedient sich parlamentarischer Logik. Den allermeisten sehen in der Kampagne das Versprechen, dass mit ihrer Unterschrift darür gesorgt wird, dass große Wohnungskonzerne enteignet werden. Der Rest der Kritik erscheint einfach: Die Kampagne wie sie ist wird die Wohnungskonzerne nicht enteignen. Also mache sie den Unterstützer*innen etwas vor, streue ihnen Sand in die Augen. So weit, so klar. Doch es gibt Grautöne in diesem Schwarz-Weiß-Bild. Denn, während diese parlamentarische Logik uns Anarchist*innen abschreckt, wird die Kampagne für viele Menschen gerade zugänglich sein, weil sie sich dieser Logik bedient. Das ist Fluch und Segen zugleich. Aus anarchistischer Perspektive ist es hinderlich, da Menschen von ihrer eigenen Kraft zu Handeln, Widerstand zu leisten, abgelenkt werden. Warum aber schaffen wir es nicht, kollektiv genug Widerstand zu leisten, um die Regeln des Systems zu ändern. Warum fehlen uns die unzähligen Leute, bei denen der Veränderungswille grundsätzlich da ist, für die es mehr als genug Gründe gibt? Vermutlich, weil ihnen die Werkzeuge fehlen, weil viele eben nichts anderes kennen als diese parlamentarische Logik, weil für viele reale Veränderung jenseits dieser Logik unvorstellbar ist. Und das ist nicht ihre Schuld oder Dummheit, es sind Jahrzehnte der kulturellen Dominanz der parlamentarischen Demokratie. Wenn es nun ein Volksbegehren wie DWE schafft, einen Funken Widerstandswille zu entfachen, ist das ein klitzekleiner Schritt in die richtige Richtung. Das gilt auf ähnliche Weise für Unteilbar und die Demos der Klimabewegung: Für viele Leute sind diese Kampagnen der nächste vorstellbare Schritt ihres politischen Handelns. Auch wenn die revolutionäre Ungeduld hier ein berechtigtes Seufzen gebietet: Diesen Schritt müssen wir erst einmal respektieren, bevor wir ihn ausbauen und über ihn hinausgehen.
Noch eine Sache, die die genannten Kampagnen gemein haben: Massenbewegungen reduzieren ihre Ziele oft auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Beispiel Fridays for Future oder Unteilbar. Das ist erstmal eine Feststellung – unabhängig von den Gründen, unabhängig davon, dass wir das auch gerne anders hätten. Gegenwärtig (in den heutigen Bedingungen) tendieren Massenbewegungen dazu, sich zu entradikalisieren, das heißt, sich in kapitalistischen und parlamentarischen Denkmustern festzufahren. Im nächsten Schritt müssen wir uns fragen: warum ist das so? Was macht sie zu Massenbewegungen? Wir glauben nicht, dass die ‚Massen‘ radikaleren Formen des Kampfes grundsätzlich scheu sind. Liegt es an den Bedingungen, vielleicht an den (vorstellbaren) Aussichten des Kampfes? Und die wichtige Frage: Wie können wir, als Anarchist*innen dieser Entradikalisierung etwas entgegensetzen? Was ist uns bei Fridays for Future durch die Lappen gegangen? Haben nicht viele von uns gesagt: Da müsste man eigentlich reingehen und radikalere Prozesse anstoßen? Was hätten die Gefährt*innen vor 10 Jahren beim Mietenvolksentscheid anders machen können? Was müssen wir jetzt anders machen? Denn fest steht: Veränderung braucht radikale Qualität aber sicherlich auch Quantität. Es braucht weitreichende Forderungen, aber auch viele und viele unterschiedliche Leute die sich dahinter stellen und sie umsetzen wollen.
Der Glaube, bei dem ganz privaten Bedürfnis Wohnen etwas ganz konkret ändern zu können, ist der Grund, warum sich so viele Menschen für eine Unterschriftenaktion begeistern lassen. Wirklich glaubhaft ist das nur in einer parlamentarischen Logik, die nun mal die vorherrschende Form der Politik ist und deshalb für viele Menschen so prägend ist. DWE strebt eine Reform an. Und mit der Abwesenheit revolutionärer Perspektive werden Reformen von vielen als die einzige konkrete Perspektive auf Veränderung wahrgenommen. Dabei stimmt es, dass Reformen die Bewegung schwächen können (was gut sichtbar ist anhand der Dynamik um die Einführung und den Rückzug des Mietendeckels). Gleichzeitig aber sind Erfolge für eine Bewegung auch wichtig (‚kleine, große Erfolge‘, wie es im Jargon des Organising und der Transformationsprozesse heißt (6)). Die Erfolge, die wir erkämpfen, werden zunächst Reformcharakter haben. Schaffen wir es, uns vereinnamende Politiker*innen vom Leibe zu halten? Schaffen wir es trotzdem die Perspektive auf radikale Veränderung offen zu halten? Können wir immer einen kleinen Schritt weiter gehen, bis vielleicht die Miete auf Instandhaltungs- und Nebenkosten reduziert ist? Können wir uns vielleicht dann etwas dabei vorstellen, was es heißen könnte, den Kapitalismus abzuschaffen?
DWE als Chance begreifen.
Parlamente, Entradikalisierung & Reformen: Natürlich fühlt es sich besser an, sich da nicht die Hände schmutzig zu machen. Aber wie können wir erwarten, dass jene, die jetzt in DWE politische Hoffnung legen (oder in Unteilbar, Fridays for Future oder gar in politische Parteien), von sich aus und plötzlich den Schwindel erkennen werden und sich uns anschließen? Als Anarchist*innen tragen wir eine Verantwortung dafür, den Standpunkt zu verteidigen, dass echte Veränderung nur von unten kommt. Es ist unsere Aufgabe, den Bruch mit der parlamentarischen Logik (hin zu libertären Konzepten!) herbeizuführen. Aber wenn wir dieses ‚herbeiführen‘ ernst nehmen, müssen wir uns zunächst in die Denkweise anderer hineinversetzen. Wir müssen verstehen, in welcher Sprache ihre Bedürfnisse geäußert werden, nach welcher Logik ihre Hoffnungen funktionieren. Diese Denkweise ist durch Kapitalismus und Parlamentarismus geprägt, denn dies sind gerade die gängigen Sprachen. Der nächste Schritt kann sein, zusammen eine andere Sprache zu lernen, die des Widerstandes.
Wir glauben, DWE ist eine dieser Kampagnen anhand derer dieser Bruch vorbereitet werden kann. DWE bewegt viele in ihrer parlamentarischen Logik. Es wird für viele aber frappierend klar werden, wie die Politik ihre Stimme ignoriert und ihren Willen verrät. Dabei reicht es nicht, bloß zu sagen, dass DWE scheitern wird. Um die eigene Meinung zu ändern (sich zu radikalisieren) braucht es immer wieder konkrete Erfahrungen. Es braucht die Hoffnung und die Enttäuschung. Dann braucht’s die richtige Analyse des Scheiterns sowie einen glaubhaften Alternativplan. So kann sich Enttäuschung in Wut und Tatendrang verwandeln – tun wir nichts, führt die Enttäuschung in die Verdrossenheit. Wenn wir ehrlich sind, das war doch bei unserer eigenen Radikalisierung nicht anders: „Ich wurd nicht so geboren, denn ich bin so geworden…“
Zur ‚Strategie‘
Radikalisierung ist ein Prozess: Wir müssen klein anfangen aber das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Soziale Revolution ist das Ziel, für das wir, wie andere Anarchist*innen auch, brennen. Ja, das viele, die sich vielleicht nicht mal zuschreiben Anarchist*in o.ä. zu sein, herbeisehnen! Weil wir das tun, müssen wir diesen langen und schwierigen Prozess durchziehen. Dieser Prozess der Radikalisierung ist so was wie unsere Strategie. Damit meint Strategie weder „Heeresführung“ noch ein „Trojanisches Pferd“ (7), sondern am ehesten einen gemeinsamen Spaziergang hin zu radikaleren Kampfformen. Und wenn wir uns mal wieder zu verlaufen drohen, braucht’s auch die Gefährt*innen die einem sagen, wo es grad vielleicht auch lang gehen könnte. Aber in diesem Streiten sollte das Fragen voranstehen. Denn den einen richtigen Weg gibt’s wohl nicht.
Das liegt daran, dass unsere Strategie von Widersprüchen gezeichnet ist und es wohl bleiben wird. Wenn es erstmal ernst wird, werden wir wohl noch größere Probleme haben als die Frage: unterschreiben oder nicht. Beteiligt man sich an einer Bewegung für parlamentarische Demokratie, wenn sie sich gegen einen faschistoiden Autokraten richtet? (Belarus, (8)). Blockiert mensch die Autobahn, Seite an Seite mit jene, die gegebenfalls nur wegen einer Benzinpreiserhöhung da sind (Gelbwesten, (9))? Beteiligt mensch sich an eine Bewegung für die Selbstverwaltung, auch wenn deren Organisation auf einer Partei mit Kadern aufgebaut ist (Rojava)? Nur so, um einige Beispiele zu nennen wo Anarchist*innen vor Ort sich sicherlich den Kopf zerbrochen haben. Aber nach unserer Meinung hat es sich in all diesen Fällen gelohnt zu kämpfen, es hat sich gelohnt, sich auf die Widersprüche einzulassen.
In diesen 1000 Widersprüchen, die unsere Existenzen sind, wird unser Kampf nicht frei von Widersprüchen sein. „Wenn Militante und Nichtmilitante, Gemäßigte und Anarchist*innen faktische und solidarische Bündnisse eingehen, werden die Spaltungen und Isolierungen verunmöglicht.“ (10). Genau das schlagen wir vor. Für uns heißt das, dass wir gerne streiten über den richtigen Weg anarchistisch Deutsche Wohnen zu enteignen, aber dass wir Deutsche Wohnen enteignen werden – und noch viel mehr. Dass wir das als Freund*innen, Gefährt*innen und Genoss*innen tun, ob wir nun aus dem autonomen, aufständischen oder syndikalistischen Spektrum kommen, aus der Kiezini oder der kurdischen Bewegung, mit den Nachbar*innen und mit jenen, für die die Politik gerade (noch) aus 5 Farben und einem Wahlzettel besteht.
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2. Wie holen wir Unterstützer*innen von DWE ab? Wie können wir mit ihnen den Weg der Hoffnung, Enttäuschung,und Wut und praktischen Umsetzung gehen, und am Ende dafür sorgen, dass DWE zu mehr Politisierung statt zur Verdrossenheit führt?
Sich in die parlamentarische Logik reinversetzen heißt nicht, sich sie anzueignen oder vor ihr zu kapitulieren. Es ist eine Sache, die Widersprüche zu erkennen, es geht aber letzten Endes darum, in ihnen praktisch handlungsfähig zu bleiben. Wie sieht der schmale Weg durch die Widersprüche konkret aus? Müssen wir uns, als Anarchist*innen, auf Deutsche Wohnen enteignen einlassen? Ja und Nein.
Ja. Wir müssen den Unterstützer*innen von DWE zeigen, dass wir auf der gleichen Seite stehen. Auch wir wollen Deutsche Wohnen enteignen, denn auch wir finden die scheiß Miete zu teuer. Denn, auch wir wollen unsere Stadt zurück. Der Weg, den DWE geht, ist für viele der nachvollziebare Weg. Wir haben noch einiges zu tun, bevor unser „Mietstreik jetzt“ oder „Komm, wir besetzen jetzt die Häuser dieser Stadt!“ zu wirklich massenmilitante Aktionen werden können. Wir haben einiges zu tun, wenn wir radikale Solidarität statt müden Blicken, verständnisvollen Seufzer (und Pressefotos) ernten wollen. Und eigentlich wussten wir das auch vorher. Obwohl der Wille da ist, ist der Schritt zu groß, der Weg nicht nachvollziehbar. Also ja, wir sollten die Hoffnung und die Bedüfnisse der Menschen unterstützen, die sich in der DWE-Unterschriftenaktion materialisieren.
Und Nein! Auf keinen Fall unterstützen wir die Parteifunktionäre, auf keinen Fall die Hinterzimmergespräche und die faulen Deals, die die logische Konsequenz davon sind, dass Deutsche Wohnen (zwangs)gekauft werden soll. Hier ist ein Keil in die Kampagne zu treiben. Das heißt: mit den Unterstützer*innen für die Enteignung, gegen jene, die diesen Willen verraten werden. Und das muss keineswegs Heuchlerei bedeuten, denn man kann das ruhig von vornherein sagen: “Liebe Unterstützer*innen von Deutsche Wohnen Enteignen, liebe Nachbar*innen, wir kämpfen mit euch, glauben jedoch nicht, dass die Politik ihr Versprechen von alleine halten wird. Am Ende müssen wir selbst dafür sorgen, das enteignet wird! Und enteignet wird, basta!”
Doch diese Feststellung reicht nicht allein. Man hat uns richtig gefragt: Wie? Wie denn? Im Text ‚Enteignung und soziale Revolution‘ hat man uns gefragt: “Wie kann die Praxis der Enteignung forciert werden? Welche Ansätze wollt Ihr verfolgen, die eine Alternative zu der Kampagne „Deutsche Wohnen kaufen“ etablieren könnten und die Leute abholt, die den Bluff der Kampagne erkennen? Wo sind Kräfte zu bündeln und die Fragen der Enteignung massenwirksam, massenmilitant und subversiv anzugehen?“ (11)
Wie holen wir die Leute ab?
Der anarchistische Umgang mit Reformen heißt Druck aufbauen, statt für oder gegen sie wählen zu gehen. Dabei muss es darum gehen, von unten nach oben Druck aufzubauen. Wir müssen jene mitnehmen, die an eine Enteignung (oder Zwangskauf) von Deutsche Wohnen glauben und die sie wirklich wollen. Und wir denken, das betrifft viele der Unterstützer*innen und Leute, die an der Basis bei DWE mitarbeiten. Wenn wir deren Hoffnung mitnehmen und sie dennoch vor dem drohenden Betrug oder dem Scheitern der Kampagne warnen können, bauen wir Druck auf die Bewegungsmanager*innen und Parteipolitiker*innen auf, ohne die Basis der Kampagne abzuschrecken.
Doch anprangern allein wird nicht ausreichen. Es muss stets ein überzeugender Alternativplan erkennbar sein. Dabei muss es in jedem Schritt darum gehen, die nächst vorstellbare konkrete und erfolgsversprechende Handlungsoption zu ermitteln, und diesen zusammen mit den Unterstützer*innen von DWE umzusetzen. Das könnte etwa so aussehen.
1. Am Wahltag werden wir Farbe bekennen: Wir, als Anarchist*innen, glauben nicht, dass das Versprechen der Kampagne gehalten wird. Wenn wir enteignen wollen, müssen wir das selbst machen.
2. Nun haben wir einen Moment Zeit. Niemand erwartet, dass die Kampagne sofort Erfolge zeitigt, also müssen wir warten. In der Zeit sollten aber die nächste Schritte vorbereitet werden, in Zusammenarbeit mit der DWE-Basis.
3. Irgendwann wird unter den Unterstützer*innen von selbst Unruhe aufkommen, Zweifel daran entstehen, ob die Politik den Volksentscheid umsetzt. (Im Zweifel soll hier durch Mitteilungen und Aktionen darauf hingewiesen werden). Das ist der Moment für eine Demonstration für die Enteignung, diesmal verbunden mit einem Ultimatum für die Umsetzung. Wird dies nicht eingehalten, werden weitere Maßnahmen ergriffen werden.
4. Das Ultimatum verstreicht ergebnislos. Es ist an der Zeit, mit politischen Streiks und Blockaden den Druck zu erhöhen. Das sind anspruchsvolle Aktionen, die Vorbereitung brauchen und an der trotzdem vermutlich nur ein Bruchteil der Unterstützer*innen teilnehmen wird. Da braucht’s mediale Begleitung sowie die Fortsetzung niedrigschwelliger Aktionen.
Bis hierher haben wir den reformistischen Rahmen von DWE noch nicht verlassen. Es ist schon ganz viel, was wir uns da vornehmen, aber wir als Anarchist*innen sollten noch mehr verlangen. Parallel zu dem Prozess sollten wir unablässig die Idee der Enteignung aufgreifen, sie auf andere Kämpfe ausbreiten (z.B. Krankenhaus), den Begriff der Enteignung zu seiner ursprünglichen, radikalen Bedeutung zurückführen. Enteignung heißt, dass 1) gegen den Willen der Eigentümer:innen, 2) ihr Boden oder Produktionskräfte 3) ohne Auszahlung des Profits d.h. ohne Entschädigung 4) vergesellschaftet wird, und zwar 5) in anarchistischem Sinne den Mieter*innen/Arbeiter*innen und nicht dem Staat übertragen wird. Führen wir uns das vor Augen, wie ist das auf DWE zu übertragen? Welche Schritte folgen daraus?
5. Ab dem 4. Schritt sollten wir parallel damit angefangen, die Forderungen der Kampagne zu erhöhen: Entschädigungslose Enteignung, Treuhand in Mieter*innenverwaltung auch für die städtische Wohnungsunternehmen und ein entfristeter Mietendeckel sind nur einige Beispiele. Aber auch, was fordern Mieter*innen selbst? Ein gemeinsamer Projektraum in jedem Haus in Mieter*innenselbstverwaltung vielleicht? Solange diese Forderungen in einer größeren Perspektive eingebettet sind, sollten wir sie mittragen.
6. Die Perspektive dieser Radikalisierung ist Mieter*innen-Selbstverwaltung, ihr letztes Mittel ist der Mietstreik. Dafür, sowie auch für die vorangegangenen Schritte, braucht es die Organisationsstruktur, die von DWE aufgebaut wurde und diese muss ausgebaut werden. Nur so kommen wir überhaupt dahin, dass Selbstverwaltung der Häuser denkbar wird.
Das alles kann von militanten Aktionen begleitet werden, wenn diese im Prozess der Radikalisierung Sinn ergeben. Sie sollten so gewählt sein, dass jene Teile von DWE, die sich ggf. eher auf Kompromisse einlassen wollen, sich nicht von ihnen distanzieren können, ohne ihre Basis, die enteignen will, zu vergraulen.
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3. Und, wenn wir da schon eine Strategie entwickeln, wie kommen wir dahin, sie umzusetzen. Wer sind unsere Verbündete, wie organisieren wir uns?
Fassen wir nochmal zusammen: Wir wollen Druck von unten aufbauen, zusammen mit den Unterstützer*innen von DWE. Wir wollen mit ihnen Demos, Streiks und Mietstreiks organisieren und schließlich die Häuser in Selbstverwaltung überführen. Es ist klipp und klar, dass es dafür die richtigen Verbündete und eine funktionierende Organisierung braucht.
Wer sind unsere Verbündete?
Um diesen Plan umzusetzen braucht es die (Selbst)-Organisierung von Mieter*innen und konkret auch jene, die die Kampagne von DWE bisher unterstützen. Wir brauchen erstens eine ständige Rückkopplung zum Befinden der Unterstützer*innen von DWE, nur so können wir jeweils nächsten Handlungsschritt ermitteln. Außerdem braucht’s für die Mobilisierung für Demos und Streiks die kleinteilige Basisorgansierung. Das Mietenwahnsinnsbündnis einerseits, die Organisierung in Kiezteams von DWE andererseits können dafür als wichtige Bausteine dienen. Als Anarchist*innen können wir froh sein, dass diese Organisierung schon so weit vorangeschritten ist. Es soll darauf geachtet werden, dass sich die Mieter*innenbewegung nicht auf DWE reduziert. Daher müssen wird besonders auch die kleinteiligen und lokalen Initiativen erreichen.
Zu diesen Organisierungen braucht es ein Vertrauensverhältnis. Das entwickelt sich am besten durch konstruktive Zusammenarbeit. Das heißt, in die Organisation rein gehen, sich beteiligen, die Ressourcen die mensch hat zur Verfügung stellen und dabei aber klar den eigenen anarchistischen Standpunkt betonen. Die MIeter*innengewerkschaft ist ein Beispiel davon, wie diese Zusammenarbeit gerade schon aufgebaut wird. Auf diese Art und Weise wird dann auch niemanden instrumentalisiert, sondern eingeladen, mit uns zu kämpfen. Wenn wir dieses Vertrauensverhältnis haben, können wir immer wieder libertäre Ideen und Aktionsformen reinbringen. (Theoretisch wurde dieses Konzept übrigens von dem Plattformismus bzw. ‚Especifismo‘ ausgearbeitet (12)). Die zweite Grundlage dieses Vertrauensverhältnisses sind unsere persönliche Bekanntschaften. Wir haben das Glück, selbst schon in Mieter*innenkämpfen aktiv zu sein und viele Leute zu kennen, die das ebenfalls sind.
Was ist unsere Organisation?
Diese Verbindung zur ‚Mieter*innenbewegung‘ nutzt aber nichts, wenn wir selbst nicht die Klarheit und die Kraft haben, unsere Ideen und Forderungen umzusetzen. Es braucht eine anarchistische Organisation, die in der Lage ist, zu überzeugen. Das heißt, die sowohl unsere Gefährt*innen in der Mieter*innenbewegung überzeugt und die uns, als Anarchist*innen überzeugt. Da haben wir im Moment ein Problem.
Um diese Klarheit und Kraft zu entwickeln, braucht’s Perspektive und Dauerhaftigkeit, Diskussionen und Wissensweitergabe, Verbindlichkeit und eine gewisse Größe. Die Organisation, die das in sich hat, wird jene sein, die uns Hoffnung und Motivation gibt. Gleichzeitig wird die Organisation, die uns motiviert, jene sein, der wir uns verbunden fühlen. – Wir sprechen diesen schwierigen Punkt an, weil wir glauben, dass es viele unter uns gibt, die den ständigen Neuanfängen und Reorganisierungen müde sind. Gute Ideen aber schlechte Umsetzung, Unverbindlichkeit, Abschweifen, immer wieder Neuanfang. Da sind wir selbst auch Teil davon und wir wollen niemanden was vorwerfen, wollen aber den Schritt wagen, damit zu brechen. An dem Punkt, wo wir persönlich gerade stehen, heißt das Lust auf mehr Verbindlichkeit, es heißt, eine gemeinsame Strategie zu entwickeln und dann eine Verabredung eingehen, diese einzuhalten. Es heißt, sich einer Struktur zugehörig zu fühlen, auf die wir uns verlassen können. Die auch da ist, wenn wir scheitern (und eine revolutionäre Praxis heißt nun mal, ständig auf die Fresse zu fliegen). In der wir versuchen unser Scheitern zu verstehen und es gemeinsam nächstes mal besser machen. Und von der wir wissen, dass wir trotz des Scheiterns auf den richtigen Weg sind, weil wir für was sinnvolles kämpfen und das mit Kopf und Herz tun.
Dies ist ein Angebot dabei mitzumachen. Offen für jene, die auch an diesem Punkt stehen, aber auch für jene, die am Rande zuarbeiten wollen. Eine gute Organisation hat verschiedene Ebenen der Beteiligung und hält so auch den Wechsel aus, die allen freien Vereinbarungen von freien Menschen eigen ist. Nur aufrichtige Motivation hält Menschen letzten Endes am Ball, da sind wir selbst keine Ausnahme. Wir müssen eine Organisierungsform und eine Arbeitsweise finden, die uns selbst begeistert. Wir glauben: Die Organisierung, die uns überzeugt, wird auch den Rest der Mieter*innenbewegung überzeugen.
Konkreter?
Hier konkreter zu werden heißt, machen! So sehr wir uns über diese Diskussion freuen, in uns wächst jeden Tag mehr das Bedürfnis, endlich gemeinsam Ideen umzusetzen. Wir reden viel, das ist wohl eines unserer Laster. Wir können nicht alles umsetzen, was wir sagen, aus dem ganz einfachen Grund, dass es immer viel zu viel zu tun gibt. Wir haben oft Angst, uns in Diskussionen über die Anarchie aufzubrauchen, haben Angst mehr zu verkünden als wir umsetzen können, Angst, uns zu übernehmen und dabei Quatsch zu machen.
Daher bleibt uns jetzt nur, klar zu sagen, was wir selbst machen werden, und euch einzuladen, auch mitzuteilen, wenn ihr etwas übernehmen mögt und könnt. Wir werden Gefährt*innen bei DWE ansprechen, wir werden eine Diskussion in die Mieter*innenbewegung reintragen, wir werden ein bisschen über Social Media präsent sein und wir werden unterstützen beim Aufbau der Mieter*innengewerkschaft (13). Das ist aber nur ein Teil und erst der Anfang, darüber sind wir uns bewußt. Wenn dir oben genannte Vorschläge gefallen haben, melde dich, schließ dich an, werde selber aktiv. Zusammen werden wir von der Gesamtscheiße weniger schnell verschluckt.
atopic und Perspektive Selbstverwaltung, September 2021.
atopic@systemli.org, perspektive-sv@systemli.org
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Links:
1. ‘Über gesellschaftliche Annäherung und Abgrenzung’ & ‘Die Enteignung der Hausbesitzer’
2. ‘DWEadé’
3. ‘Das eine sagen, das andere tun’
4. ‘Enteignung & soziale Revolution’
5. ‘Enteignung & soziale Revolution’
6. Transformation und Anarchismus. Z.B. praktisch in SeaSol, Broschüre Englisch (pdf), Broschüre deutsch.
7. ‘Das eine sagen, das andere tun’
8. Belarus. Z.B. ‘Zwischen Neoliberalismus und Revolution. Textsammlung zu den Protesten in Belarus.
9. Gelbwesten. Z.B. ‘Gelb ist das neue Rot’ (Willi Hajek Hg.) oder ‘Soziale Gelbsucht’ (Guillaume Paoli)
10. ‘Enteignung & soziale Revolution’
11. ‘Enteignung & soziale Revolution’
12. Especifismo, z.B. in ‘Especifismo, die spezifisch anarchistische Organisation’ (pdf)
13. Mieter:innen Gewerkschaft