Aktivist Tadzio Müller im Interview: »Wer Klimaschutz verhindert, schafft die grüne RAF«
Werden die Klimaproteste militant, wenn sie ohne Wirkung bleiben? Ja, aus Notwehr, warnt der langjährige Aktivist Tadzio Müller. Ob sich daraus eine Untergrundbewegung entwickle, habe die Gesellschaft in der Hand.
Zur Person:
Tadzio Müller (45) ist Politikwissenschaftler, Autor und seit zwei Jahrzehnten Aktivist, unter anderem in der globalisierungskritischen Bewegung. Seit 2008 baut er die Klimabewegung in Deutschland mit auf. Im Jahr 2014 hat er die Anti-Kohle-Kampagne »Ende Gelände« mitbegründet. Zuletzt arbeitete er als Referent für die Rosa-Luxemburg-Stiftung.
SPIEGEL: Herr Müller, gerade ist die Weltklimakonferenz zu Ende gegangen – mit einem historischen Ergebnis, wie die Bundesumweltministerin sagt. Was sagen Sie?
Tadzio Müller: Unmittelbar nach der Weltklimakonferenz in Kopenhagen hat man auch erzählt, sie sei ein großer Erfolg gewesen. Heute gilt sie als kolossal gescheitert. Das hat mit Gipfelidiotie zu tun. Die Teilnehmer entwickeln einen Tunnelblick. Sie starren zwei Wochen auf irgendwelche Klammern und glauben irgendwann, es sei entscheidend, ob da »phase out« oder »phase down« steht.
SPIEGEL: In Glasgow wurde die Passage zum Kohleausstieg zum Schluss noch so geändert, dass dort »phase down« steht, also schrittweiser Abbau, und nicht mehr »phase out«, also Ausstieg,…
Müller: …was überhaupt keine Bedeutung hat. Ich kämpfe seit mehr als einem Jahrzehnt gegen Kohle, diese Begrifflichkeiten existierten bis jetzt gar nicht. Und über solche Details verkämpft man sich. Das ist wie ein Elfmeterschießen beim Fußball: Du musst nichts von Fußball verstehen, um von der Dramaturgie gefesselt zu werden. Das geht selbst den guten Leuten so, die bei so einer Klimakonferenz dabei sind.
SPIEGEL: Man sieht vor lauter Klammern den Epochenbruch nicht mehr?
Müller: In den USA sind große Teile des Landes verbrannt, andere sind abgesoffen. Im Ahrtal starben mehr als 180 Menschen in Fluten, in Südeuropa standen die Wälder in Flammen. Ich hoffe, dass dieser Sommer etwas verändert hat. Es gab fast nichts mehr zwischen Verbrennen und Absaufen. Eigentlich sollte bei jedem angekommen sein, dass wir vor einem Epochenbruch stehen.
SPIEGEL: Dann läuft es also ganz gut für die Klimabewegung, der Sie seit mehr als zehn Jahren angehören?
Müller: Ganz und gar nicht. Der Ausstoß von Treibhausgasen und die Konzentration in der Atmosphäre steigen weiter. Der zentrale Mechanismus, auf den Ökobewegungen immer aufgebaut haben, funktioniert nicht mehr: Protestbewegungen lenken als Feuermelder die Aufmerksamkeit auf ein Thema, verändern die öffentliche Meinung, und dann muss Politik handeln. Aber sie handelt nicht. Der Mechanismus ist kaputt. Wir hatten 26 Klimagipfel, und die Emissionen steigen. Daraus ergibt sich die Frage: Was machen wir jetzt?
SPIEGEL: Seit einer Weile wird in der Klimabewegung offen über eine Radikalisierung diskutiert. Selbst Fridays for Future erprobt zaghaft zivilen Ungehorsam.
Müller: Wir werden sehr wahrscheinlich eine dreifache Radikalisierung erleben. Eine Radikalisierung der Klimakrise. Eine Radikalisierung der Ignoranz, um die kognitive Dissonanz zu verarbeiten. Und dann, als Reaktion, eine Radikalisierung der Klimaproteste.
SPIEGEL: Was heißt das?
Müller: Zerdepperte Autoshowrooms, zerstörte Autos, Sabotage in Gaskraftwerken oder an Pipelines. Das wird es nächsten Sommer auf jeden Fall geben. Ich höre das aus der Bewegung, sogar von eher moderaten Akteuren. »Ende Gelände« hatte dieses Jahr schon Pläne für Sabotageakte. Natürlich werden alle darauf achten, dass niemand zu Schaden kommt. Die entscheidende Frage ist: Was geschieht nach den ersten Sabotageakten? Wie reagiert die Gesellschaft, wenn nachts regelmäßig Autobahnbaustellen verwüstet werden?
SPIEGEL: Was glauben Sie?
Müller: Dann wird sich wahrscheinlich eine sogenannte Moral Panic entwickeln, es wird massiven Repressionsdruck geben. Politik und Sicherheitsbehörden werden Militanz als Terrorismus brandmarken, militante Aktivisten für mehrere Jahre im Knast landen. So haben wir das im Westen der USA in den Neunzigern gesehen. Ein Großteil der Bewegung wird Angst bekommen und friedlich werden. Ein kleiner Teil wird in den Untergrund gehen.
SPIEGEL: In den Untergrund?
Müller: Ja, davon gehe ich aus. Wer Klimaschutz verhindert, schafft die grüne RAF. Oder Klimapartisanen. Oder Sabotage for Future. Wie auch immer sie sich dann nennen.
SPIEGEL: Jemand, der so lange dabei ist wie Sie, ein Stratege mit Öffentlichkeitswirkung, könnte Einfluss nehmen auf die Entwicklung, statt einer angeblich unvermeidlichen Eskalation das Wort zu reden.
Müller: Ja und nein. Ich werde nicht in den Untergrund gehen, ich bin viel zu alt. Ich würde auch niemandem dazu raten. Es ist politisch fatal, und man weiß aus den Erfahrungen der RAF, dass der Untergrund einen kaputt macht. Aber es wird passieren, wenn die Repression gegen Notwehraktionen zu heftig ausfällt. Ich weiß das aus Erfahrung, ich war selbst schon einmal kurz davor, in den Untergrund zu gehen.
SPIEGEL: Wie bitte?
Müller: Ich war Teil des linken Flügels der Anti-Globalisierungsbewegung. Als Carlo Giuliani im Juli 2001 in Genua bei Protesten gegen den G8-Gipfel erschossen wurde, haben wir das ernsthaft diskutiert. Hätte es nicht die Anschläge am 11. September gegeben, hätte es 2002 wahrscheinlich eine globalisierungskritische Guerilla gegeben. In der Lage war aber klar: Der Staat wird brutal zurückschlagen, das wird lebensgefährlich.
SPIEGEL: Fänden sie es also gut oder schlecht, wenn es eine Untergrundbewegung gäbe?
Müller: Mir geht es um entschlossenen, gewaltlosen Protest, der Regeln bricht und auch mal Bauzäune umwirft. Das ist für mich keine Gewalt. Wie soll ich einem Zaun Gewalt antun? Gewaltloser Protest ist erfolgreicher. Aber ich bin kein prinzipieller Pazifist. Natürlich hätte man Hitler erschießen sollen. Wenn mir Leute sagen: Tadzio, nichts funktioniert gegen die Klimakrise, COP 1 bis 26 sind gescheitert, aber wir können mit einer Aktion wirklich etwas verändern und müssen dafür Dinge zerstören – dagegen habe ich keine moralischen Argumente.
SPIEGEL: Sie reden von gewaltlosem Protest. Aber Dinge zu zerstören, ist gewaltvoll. Menschen könnten zu Schaden kommen, wenn auch unbeabsichtigt. Mit Gewalt wird sich die Breite der Gesellschaft sicher nicht überzeugen lassen.
Müller: Die Öffentlichkeit wird das hassen, aber dass die Öffentlichkeit Klimaaktivismus gut findet, hat auch nichts gebracht. Die Regierung schnürt ein wirkungsloses Klimapaket, während Millionen auf der Straße sind. Das war wirklich der maximale Mittelfinger. Wenn die Gesellschaft weiter so macht, entscheidet sie sich für die Militanz, nicht diejenigen, die dann militant werden.
SPIEGEL: Schuld sind die anderen – da machen Sie es sich schön leicht. Aus der Verantwortung für die eigenen Entscheidungen können Sie sich nicht einfach entlassen.
Müller: Habe ich mich für Gewalt entschieden, wenn ich einen Nazi schlage, der mich angreift?
SPIEGEL: Natürlich. Aus guten Gründen, aber: ja. Klar.
Müller: In einer Situation, in der ich mich nur zwischen Sterben und Gewalt entscheiden kann. In der Klimakrise kann sich die Bewegung gerade zwischen Irrelevanz und Militanz entscheiden. Es geht längst um Notwehr. Notwehr ist die straffreie Verteidigung gegen einen Angriff, bei dem einem Angreifer Schaden zugefügt wird. Wenn jemand ein Gaskraftwerk sabotiert oder Autos zerstört, ist das mittlerweile Notwehr. Es ist legitim, Dinge kaputt zu machen.
SPIEGEL: Ist das Ihr Ernst? Sie nehmen sich heraus, selbst den Notstand zu erklären. In der Klimakrise gibt es keinen eindeutigen Angreifer. Jeder Mensch verursacht Emissionen, es geht um systemische Effekte. Wer soll der Angreifer sein? Und wenn es keinen gibt: Wie soll es Notwehr sein?
Müller: Das Bundesverfassungsrecht hat gesagt, dass Freiheitsrechte der Zukunft die Freiheitsrechte in der Gegenwart einschränken. Wenn man das einbezieht, ist jede fossile Infrastruktur ein Angriff auf die Freiheit. Und es sterben schon jetzt Menschen, etwa im Ahrtal. Ich bin übrigens sehr dafür, die Behauptung der Notwehr bis zum Bundesverfassungsgericht durchzufechten.
SPIEGEL: Sie behaupten, es gebe für die Bewegung nur Irrelevanz oder Militanz. Die Klimabewegung ist aber extrem gewachsen in den vergangenen drei Jahren, vieles ist in Bewegung gekommen. Warum sollte es nichts zwischen Militanz und Irrelevanz geben?
Müller: Ein Beleg ist die Wahl. Ich bin wirklich kein Fan der Grünen, aber es ist schon etwas dran: Wäre der Bevölkerung Klimaschutz wirklich wichtig, hätten die Grünen mehr als 14,8 Prozent bekommen.
SPIEGEL: Damit ist nun wirklich nicht bewiesen, dass die Klimabewegung durch öffentlichen Druck nichts mehr erreichen kann.
Müller: Hätten wir Zeit, wäre das wahr. Alle linken Strategien basieren seit jeher darauf, dass wir Zeit haben. In den Bauernkriegen hieß es: »Geschlagen ziehen wir nach Haus, die Enkel fechten’s besser aus.« Bei Martin Luther King hieß es: »The arc of the moral universe is long, but it bends toward justice.« Die anarchistische Band Chumbawamba singt in ihrem Partyhit: »I get knocked down, but I get up again.« Wir haben aber keine Zeit. Wir können es uns nicht mehr leisten, geschlagen zu werden. Es muss schneller gehen.
SPIEGEL: Sie setzen voraus, dass Radikalisierung Beschleunigung bedeutet. Auch das ist aber nicht zwingend.
Müller: Erstens rafft Militanz unter bestimmten Bedingungen die Zeit. Manchmal passiert in wenigen Tagen mehr als zuvor in Jahren. Etwa 2001 in Göteborg bei Protesten gegen die EU-Gipfel. Da wurde der Gesellschaft bewusst, dass sie keineswegs befriedet ist und wie schlecht es Migrantinnen und Migranten geht. Das hat politisch alles verändert in Schweden. Zweitens: Wir haben einfach keine anderen Optionen mehr. Wir haben alles probiert. Ich mache mir keine Illusionen: Sabotage kann super kontraproduktiv sein. Es kann, das stimmt ja und Gott bewahre, trotz aller Vorsicht jemand zu Schaden kommen, dann bricht alles zusammen. Es ist extrem riskant. Aber wenn wir noch weiter diskutieren – und ich diskutiere gern – und noch 26 weitere Klimakonferenzen durchdebattieren, geht die Grundlage der Zivilisation kaputt.
SPIEGEL: Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob Sie eine Lageanalyse formulieren oder ein Plädoyer halten. Und vor allem an wen Sie sich eigentlich wenden.
Müller: Ich will die bürgerliche Mitte darauf vorbereiten, was passieren wird. Ich rufe sie dazu auf, zu erdulden, dass Leute Dinge tun werden, die sie ablehnt und habituell abstoßend findet. Die Leute dürfen keinen Leserbrief schreiben und sich empören. Nicht im Späti über die Zecken lästern. Moral Panic baut sich von unten auf. Jeder Mensch muss sich klarmachen: Sabotage ist vielleicht nicht in ihrem Sinne, aber in ihrem Interesse.
SPIEGEL: Wenn die Voraussetzung für das Gelingen von Militanz, der Sie das Wort reden, ist, dass die Mehrheitsgesellschaft sie toleriert – gegen wen richtet sich diese Militanz dann überhaupt noch?
Müller: Meistens verändern Protestbewegungen Politik über die Veränderung der Mehrheitsmeinung. Es gibt aber noch einen anderen Weg: Man kann das ökonomische Kalkül von Akteuren verändern. Wenn die Autobahn oder das Gaskraftwerk nicht fertig gebaut werden, weil ständig die Baustelle verwüstet wird, dann verändert das die Kalkulationen. Und natürlich kann man auch Entscheidungsträger beeinflussen: Ich finde es legitim, wenn die Klimabewegung vor dem Haus von Joe Manchin Terz macht, wenn der im US-Senat Klimaschutz verhindert. Die Gesellschaft muss verstehen, dass so etwas mehr und mehr passieren wird. Ich will die Mehrheit überzeugen, damit wir sie nicht durch Sabotage zwingen müssen.
SPIEGEL: Ihnen ist klar, dass das wie eine Drohung klingt?
Müller: Ja, das ist eine Drohung. Nicht an irgendwen persönlich, aber an die Gesellschaft: Wenn es keinen Klimaschutz gibt, gibt es bald auf die Mütze. Sie treibt dann Tausende Aktivistinnen und Aktivisten, die hundertprozentig von der Richtigkeit ihrer Position überzeugt sind, in die Militanz. Herzlichen Glückwunsch, große Klasse. Das ist irrsinnig. Ich will das nicht. Ich will diese Zukunft nicht, das ist die Hölle.
SPIEGEL: So klingen Sie nicht, um ehrlich zu sein. Wie könnte die Gesellschaft denn Ihren heiligen Zorn besänftigen?
Müller: Ich bin nicht zornig und schon gar nicht heilig. Ich sage nur, was Sache ist.
SPIEGEL: Dann anders: Was müsste passieren, damit es nicht zu Untergrundaktionen kommt?
Müller: Zum Beispiel müsste eine Aktion des zivilen Ungehorsams nicht nur mit ein paar Tausend Menschen durchgeführt werden, sondern von Hunderttausenden oder Millionen. Kleine Proteste sind irrelevant oder werden niedergeschlagen. Die Leute müssen massenhaft anfangen, etwas zu blockieren.
SPIEGEL: Die Junge Union müsste anfangen, Nord Stream 2 zu besetzen?
Müller: Darauf würde ich nicht warten, aber ja, es wäre gut. Im Grunde müsste die Klimabewegung von einer kleinen Protestbewegung zur sozialen Bewegung werden. Das hier ist mein letzter verzweifelter Appell: Schließt euch an! Wir stehen seit zehn Jahren da, wir haben mit allem, wirklich allem recht behalten.
SPIEGEL: Aufrufe zu Sabotage klingen verdächtig nach dem Modell Actionfilm: Ein männlicher Held krempelt die Ärmel des zerrissenen Hemdes hoch und knallt die Faust auf den Tisch. Fridays for Future und die junge Klimabewegung wird sehr von Frauen geprägt. Was denken die, glauben Sie, über solche Aufrufe?
Müller: Ich wende mich gar nicht an die Bewegung. Ich sage der Gesellschaft: Geht blockieren! Die Ideen, die ich hier ausführe, habe ich übrigens alle aus der Bewegung selbst. Ich spreche hier zur Masse, ich will der Bewegung helfen, indem ich erkläre, was in der Bewegung diskutiert wird. Und dafür werde ich verbal verprügelt werden, das ist mir schon klar.
passiert am 21.11.2021