Linksextremismus-Prozess in Dresden: Alle schweigen, einer redet.
Sollte sich Lina E. aufgrund der jüngsten Entwicklungen Sorgen machen, so ist ihr das nicht anzumerken. Die 27-Jährige lächelt und winkt, als sie am Morgen in den Hochsicherheitssaal des Oberlandesgerichts Dresden geführt wird. Ihre Mutter und die anderen Unterstützerinnen und Unterstützer im Saal haben sich von ihren Plätzen erhoben und winken lächelnd zurück. Es ist ein Ritual, das sich seit nunmehr 55 Verhandlungstagen wiederholt.
Seit November 2020 ist Lina E. in Untersuchungshaft, seit September 2021 muss sie sich zusammen mit drei Mitangeklagten vor Gericht verantworten.
Die Bundesanwaltschaft wirft Lina E., Lennart A., Jannis R. und Philipp M. Mitgliedschaft in einer linksextremen kriminellen Vereinigung, gefährliche Körperverletzung und besonders schweren Landfriedensbruch vor. Die Angeklagten sollen Jagd auf Neonazis gemacht haben. Gegen weitere Beschuldigte wird ermittelt.
Umfangreiche Angaben
Bisher hatten alle Angeklagten und Beschuldigten zu den Vorwürfen geschwiegen – vor Gericht und gegenüber den Ermittlungsbehörden. Doch nun hat ein Beschuldigter sein Schweigen gebrochen. Johannes D., 30 Jahre alt, hat ausgepackt. Nicht nur über den Angriff auf den Neonazi Leon R. im Dezember 2019 in Eisenach, an dem er selbst beteiligt gewesen sein soll, sondern auch über Straftaten, die gar nicht angeklagt sind.
Für die Behörden ist es ein seltener Glücksfall, dass ein Insider der linksradikalen Szene mit ihnen kooperiert. Für die Szene ist es ein Albtraum.
Seit Mai soll Johannes D. auf Vermittlung des Verfassungsschutzes umfangreiche Angaben gegenüber den Behörden machen. Er soll über die Angeklagten und weitere Personen gesprochen und sich umfassend zu den Strukturen der militanten Antifa-Szene geäußert haben. Seit seiner Aussage ist es in Berlin und Leipzig zu weiteren Hausdurchsuchungen gekommen. Sein Anwalt wollte sich gegenüber dem SPIEGEL nicht äußern.
»Mama, we all go to hell« ist am Mittwoch weiß auf schwarz auf dem T-Shirt eines Prozessbesuchers zu lesen: Mama, wir fahren alle zur Hölle. Es ist der erste Verhandlungstag, nachdem bekannt geworden ist, dass Johannes D. redet. Die Aufschrift fasst die Stimmung in der linksradikalen Szene wohl ganz gut zusammen. Sie befürchtet einen »apokalyptischen Prozessausgang«, sollte das Gericht den Angaben von Johannes D. glauben – das jedenfalls twitterte das Solidaritätsbündnis »Wir sind alle LinX«.
Die linke Szene hat sich schon vor mehr als einem halben Jahr von Johannes D. abgewandt, nachdem Vorwürfe sexueller Übergriffe gegen ihn erhoben worden waren. Die Vorwürfe wurden im Internet zusammen mit Fotos von Johannes D. und Angaben zu seiner Person veröffentlicht. Ihm wurde nahegelegt, sich in Nürnberg, Berlin und Leipzig nicht mehr blicken zu lassen. Johannes D. ging nach Polen.
Der Verfassungsschutz erkannte offenbar seine Chance – und Johannes D. entschied sich zu reden. Mittlerweile befindet er sich im Zeugenschutzprogramm.
Es ist lange her, dass Mitglieder der linksradikalen Szene als Kronzeugen mit den Behörden kooperierten. In einer aktuellen Erklärung zum Fall Johannes D. erinnert die »Rote Hilfe Berlin« an die früheren Mitglieder der »Revolutionären Zellen« Hans-Joachim Klein und Tarek Mousli. Zu nennen ist auch das ehemalige RAF-Mitglied Peter-Jürgen Boock , dem seine Exfrau einst »ein taktisches Verhältnis zur Wahrheit« bescheinigte.
Wie glaubhaft die Angaben von Johannes D. sind, wird sich in den kommenden Monaten zeigen. Spätestens im August soll er mehrere Tage lang im Prozess gegen Lina E. aussagen. Kommende Woche will der Vorsitzende Richter die Termine mit D.s Anwalt abstimmen.
Bis vor Kurzem war noch mit einem Urteil in diesem Sommer gerechnet worden. An diesem Donnerstag hat das Gericht nun weitere Verhandlungstage bis Ende November bekannt gegeben.
Von Spiegel+ übernommen: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/linksextremismus-prozess-in-dresden-ein-kronzeuge-belastet-offenbar-lina-e-a-55b99f85-3e42-4189-8637-bace7f3fb699