Anquatschversuch nach Verrat

Mitte Juni wurde bekannt (1), dass der Beschuldigte im Antifa-Ost-Verfahren Johannes Domöver, mit der Bundesanwaltschaft zusammenarbeitet. Wie umfänglich er das tut, ist seit Ende Juli im Gerichtssaal in Dresden beobachtbar (2). Wie zu erwarten: Die Behörden haben noch nicht genug und versuchen noch mehr Quellen im Zusammenhang mit dem Prozess zu rekrutieren. Mindestens in Berlin hat am 8. September so ein Anquatschversuch durch den Berliner VS stattgefunden.

Der VS ist anscheinend auf der Suche nach weiteren Informant*innen und potenziellen Kronzeug*innen, um (vermeintliche) Antifa-Strukturen aufzudecken und Aktionen gegen Neonazis verfolgen zu können. Dabei ist oft nicht zu erklären, warum sie bestimmte Personen dafür auswählen. Generell sollten wir die Fähigkeiten und Ressourcen der Behörden nicht überschätzen. Der Ablauf ist immer ähnlich: Morgens nach dem Aufstehen, auf dem Weg zur Arbeit, zur Uni, zum Sport oder zum Supermarkt stehen sie meistens zu zweit vor einem und bitten um ein unverbindliches Gespräch. Dem vorausgehen kann eine kurze Observation oder andere Überwachungsmaßnahmen, um die Gewohnheiten der Betroffenen rauszufinden.

Die hier betroffene Person wurde morgens an der Wohnadresse aufgesucht und beendete sofort nach der Vorstellung das Gespräch.
Wir fordern euch eindringlich auf, euch auf Anquatschversuche vorzubereiten und euch nicht (!) auf ein Gespräch einzulassen. Nicht ohne Grund heißt es, Anna und Arthur halten’s Maul. Denn die Behörden sind sehr geschult darin, ein Gespräch in Gang zu bringen und Informationen zu erlangen. VS und Bullen haben viele unterschiedliche Methoden, um zum Verrat zu animieren. Üblich sind Drohungen (durch laufende Strafverfahren, Verrat der Aktivitäten an Arbeitgeber*innen, Familie und nicht-politisches Umfeld), Lockmittel (Versprechen von Geld oder Vergünstigungen in Strafverfahren), Spaltungen (z.B. nutzen sie hier Wissen über Konflikte innerhalb der Zusammenhänge). Wir verweisen hier einmal mehr auf den Flyer der Roten Hilfe (3).

Der Hebel im aktuellen Fall sind die potentiellen Beschuldigungen durch Domhöver, die zu Anklagen und Haftstrafen führen könnten. Dem Kalkül des VS „Wenn einer redet, wollen sich alle anderen auch retten“, ist nur durch gut trainierte Aussageverweigerung (4) beizukommen. Bei der ersten Konfrontation hilft die Gewissheit: Der Verfassungsshutz hat keine polizeilichen Befugnisse. Unmittelbar kann also nichts passieren. Daher: Tief durchatmen. Ruhe bewahren. Sich nicht provozieren lassen und die Leute wegschicken.
Danach braucht es sowohl einen politischen als auch einen sozialen Umgang. Deshalb schreibt ein Gedächtnisprotokoll und informiert eure Genoss*innen und eine Antirepressionsstruktur wie die Ortsgruppe der Roten Hilfe. Der politische Umgang besteht vor allem in der Veröffentlichung des Anquatschversuchs. Das kann andere warnen und soll vor allem die Bewegung über die Aktivitäten der Sicherheitsbehörden informieren. Genauso wie andere Fälle von Repression ist auch ein Anquatschversuch keine private Angelegenheit.
Dennoch – auch wenn alle gemeint sind, ein*r ist betroffen. Oft empfinden die Betroffenen Scham, z.B. denken sie, dass sie angesprochen werden, weil der Verfassungsschutz sie für nicht stabil hält. Viele haben auch Angst, weil sie plötzlich im Fokus der Behörden stehen und durch das Teilen auch im eigenen Umfeld ungewollte Aufmerksamkeit bekommen und eine Stigmatisierung fürchten. Damit sich Betroffene trotzdem trauen, dies öffentlich zu machen, braucht es ein solidarisches Umfeld. Kein Shaming (verurteilen) oder Blaming (verantwortlich machen für das Geschehene). Sprecht mit Betroffenen über ihre Ängste und Sorgen. Gebt aktiv Unterstützung und bietet sie nicht nur an. Zum Beispiel könnt ihr helfen beim Wechseln der Handynummer oder beim Schreiben der Veröffentlichung. Falls sich die Person an den üblichen Orten nicht mehr wohl fühlt, könnt ihr helfen bei der Suche nach einer neuen Lohnabeit oder alternativen Aufenthaltsorten. Bietet euch an und fragt nach. Wir alle haben unterschiedliche Sorgen und Bewältigungsstrategien. Aber niemand möchte und sollte allein gelassen werden.

Genauso wie wir Verrat verhindern wollen, wollen wir auch nicht, dass sich aus Angst vor Repression von betroffenen Personen politisch, sozial oder räumlich distanziert wird. Die Sicherheitsbehörden versuchen tief in unsere sozialen und politischen Beziehungen einzugreifen, zu spalten und uns zu lähmen. Sprecht in eurem Umfeld über Angst vor sozialer Isolation, Strafverfahren, Haftstrafen, Knast, Observation, Handlungsunfähigkeit oder Aktionsunfähigkeit.

Nochmal grundsätzlich zum Antifa-Ost-Verfahren: Der doppelte Verrat von Domhöver (5) muss keine Krise der aktionsorientierten Bezugsgruppen auslösen. Er kann auch das Gegenteil bewirken, indem wir uns bewusst machen, durch welche Mechanismen Menschen zu Verrätern werden, warum wir kämpfen und welche Risiken wir bereit sind einzugehen. Ein solidarisches Miteinander führt uns nicht nur sicher durch Aktionen, sondern auch durch Krisen.

(1) https://www.soli-antifa-ost.org/le-b-hausdurchsuchungen-im-antifa-ost-verfahren-johannes-domhoever-ist-kronzeuge
(2) https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen/lina-e-kronzeuge-sagt-erstmals-aus-100.html
(3) https://www.rote-hilfe.de/downloads1/category/3-was-tun-wenn-s-brennt-und-rechtshilfe-infoflyer-zu-spezifischen-themen?download=22:anquatschversuch-was-tun-information-der-roten-hilfe-zu-kontaktaufnahme-von-vs-und-staatsschutz
(4) https://de.indymedia.org/node/203167
(5) https://ea-dresden.site36.net/statement-zum-kronzeugen-j-domhoever/

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passiert am 08.09.2022