Nieder mit den identitären Abgrenzungsreflexen!
Für die Autonomie anarchistischer Szenen!
Grundlegend finde ich die Herangehensweise, von Breaking the Spell in ihrem Aufruf „Nieder mit den Mörder*innen der Freiheit! – Aufruf zu einer anarchistischen Aktionswoche gegen Linke Einheit“ formuliert nachvollziehbar (https://breakingthespell.blackblogs.org/2023/07/16/nieder-mit-den-morderinnen-der-freiheit-aufruf-zu-einer-anarchistischen-aktionswoche-gegen-linke-einheit/). Ihre Absicht ist einer Diskussion wert, weil mit ihr auf das grundlegende Problem hingewiesen wird, dass sich insbesondere in der sogenannten linken Szene in den deutschsprachigen Ländern viele Dinge vermischen, die nicht einfach irgendwie nebeneinander her bestehen können und sollten. Diese Verwirrung ist leider auch unter Anarchist*innen selbst stark verbreitet. Eher selten können sie ihre eigenen Positionen theoretisch begründen. Wenn sie allein ihrem Bauchgefühl und ihren subjektiven Erfahrungen folgen, ist es daher kein Wunder, dass sie sich von Formaten wie 99 zu 1 Inspiration erhoffen, dessen Betreibende gerade die zu kritisierende linke Einheit unter ihrer antiimperialistischen Perspektive schmieden wollen – was letztendlich darauf hinausläuft, sie autoritären kommunistischen Gruppen unterzuordnen.
Eine linke Einheit gab es nie – und sollte es auch nicht geben. Überhaupt ist die Bezeichnung „links“ zwar in Abgrenzung zu „rechten“ Positionen“ wichtig – sinnvoller wäre aber, von der sozialistischen Familie zu sprechen, innerhalb derer sich durchaus nicht allein ausgewiesene Anarchist*innen außerhalb von Parteien und Parlamenten organisieren und handeln. Es ist ein alter Hut, dass Trotzkist*innen regelmäßig zur „linken Einheit“ aufrufen, die sie dann glauben anführen zu müssen. Insbesondere Vertreter*innen der stalinistischen MLPD infiltrieren linke Zusammenschlüsse und werfen jenen, „Spaltung“ vor, die sich ihrer wahnsinnigen Ideologie und ihrem völlig aus der Zeit gefallenen Führungsansprüche nicht unterwerfen wollen. Doch selbstverständlich ist es auch Linksparteien entscheidend, linke Einheiten zu bilden, um sie ihren Bestrebungen zuordnen zu können. Und unter Bewegungslinken hält man es für ein an sich erstrebenswertes Ziel, „breite Bündnisse“ zu schmieden – was in der Regel darauf hinausläuft, inhaltliche Differenzen zu übertünchen und die Diffusität über das „Linkssein“ weiter zu nähren.
Wenn irgendwer zu irgendwas aufruft, bedeutet dies erst mal nicht viel. Insofern rufen Breaking the Spell erst mal in einen dunklen Wald hinein, ohne eine Garantie zu haben, wer aus diesem heraus ruft. Das ist vielleicht einen Versuch wert, erweckt allerdings schnell den Eindruck, dass hierbei vor allem ein gesteigertes Aufmerksamkeitsbedürfnis im Vordergrund steht. Das wäre soweit auch in Ordnung, doch um diesem gerecht zu werden, müsste der Aufruf eingebettet, inhaltlich besser und der hinter ihm stehende Reflex besser verstanden und kommuniziert werden.
Als Anlass der ausgerufenen „Aktionswoche“ vom 25.09. bis zum 01.10. 2023 nehmen die Verfasser*innen den Anschlag auf das Moskauer Hauptquartier der Bolschewiki am 25.09. 1919, welcher von Anarchist*innen durchgeführt wurde, um sich für die Repression an ihnen durch die neu entstehende kommunistische totalitäre Herrschaftsform zu rächen. Und in diesem historischen Moment schien tatsächlich noch vieles offen, konsolidierte sich das staatskommunistische Regime in der neu geschmiedeten sogenannten „Sowjetunion“ doch erst ab 1923. Ohne die genauen Umstände zu kennen, sympathisiere ich durchaus mit dieser Aktion und gehe davon aus, dass sie nachvollziehbar und begründet durchgeführt wurde. Wie sich dies aber auf die heutige Konstellation sozialistischer Strömungen und Akteur*innen übertragen lassen soll, ist mir ein völliges Rätsel. Breaking the Spell begehen somit einen ersten wesentlichen Fehler, eine historische Situation zu fetischisieren, in welche sie eine vermeintlich gesetzte Wahrheit hinein interpretieren. Sie argumentieren ahistorisch – womit ich nicht sagen will, dass sich die Probleme, die Führungsansprüche, das intrigante Verhalten verschiedener „linker“ Organisationen heute nicht fortsetzen würde. Eine Kritik oder ein Vorgehen daran müsste sich dann aber an konkreten Ereignissen in der vorfindlichen Konstellation festmachen – statt mit Prinzipen und historischen Gewissheiten begründet zu werden.
Die Autor*innen scheinen von Reflexen getrieben zu sein, wenn sie vor dem Schreckgespenst der „linken Einheit“ warnen. Sie brechen nicht dem Zauber, sondern tragen selbst zur Verschleierung der Potenziale sozial-revolutionären Agierens bei. Man kann es ganz schlimm finden, dass Trotzkist*innen soziale Bewegungen infiltrieren, Kommunist*innen mit dogmatischer Weltsicht Führung beanspruchen, Parteien sich verschiedener Initiativen bedienen oder Bewegungs-Manager*innen möglichst breite Mobilisierungen hinbekommen wollen. Oder man geht halt so ran, anzuerkennen, dass diese Akteur*innen immerhin eine Strategie verfolgen, überzeugen und etwas verwirklichen wollen. Wer allein aufgrund dessen schreit und beißt, bleibt im billigen anti-autoritären Reflex verhaftet und entzieht sich der Herausforderung, Herrschaft zu überwinden und erstrebenswerte Strukturen aufzubauen.
Selbstverständlich treffen Breaking the Spell einen Punkt, wenn sie kritisieren, dass die Erzählung von der „linken Einheit“ letztendlich dazu dient, soziale Bewegungen staatlicher Politik zuzuordnen. Weil sie dies ablehnen, nach Autonomie streben und Selbstorganisation verwirklichen wollen, unterscheiden sich Anarchist*innen von anderen Sozialist*innen. Hier kann und sollte auch weiterhin ein Strich gezogen werden. Doch wenn demgegenüber nicht daran gearbeitet wird, eigenständige anarchistische Projekte hervorzubringen, welche für sich selbst stehen und erkennbar werden, dann handelt es sich tatsächlich nur um Haarspalterei, die letztendlich vor allem der eigenen Identitätsfindung in Abgrenzung von anderen Positionen dient.
Die Aufrufenden weisen darauf hin, dass die „linke Einheit“ dazu genutzt wird, den Status Quo gegen die zunehmende rechte Bedrohung zu verteidigen. Auch dies ist richtig. Aus der Tatsache, dass die AfD massive Erfolge feiert und es nur eine Frage der Zeit zu sein scheint, bis sie in den ostdeutschen Bundesländern an der Regierung beteiligt wird oder diese sogar anführt, ergibt sich umgekehrt kein Zwang eine demokratische Partei zu wählen. Im Parlamentarismus bilden sich Machtverhältnisse ab, welche nicht völlig vernachlässigt werden können, da sie die Rahmenbedingungen auch für anarchistische Personen wesentlich stärker beeinflussen, als diesen bewusst und lieb sein sollte. Doch gemeinsam antifaschistisch zu sein, geht auch ohne die „linke Einheit“. Hierbei haben die Autor*innen allerdings recht, wenn sie auf die Einschränkung taktischer Möglichkeiten im antifaschistischen Protest durch schwammige und vorgefertigte Konsense von linken Netzwerken hinweisen. Wer dies überschreiten will, müsste aber wiederum selbst aufzeigen, wie es anders gehen kann, statt sich noch an jenen zu orientieren.
Überhaupt ist es möglich, dass sich Aktive von verschiedenen Lagern aufeinander beziehen, punktuell miteinander Aktionen organisieren, ihre Schnittpunkte ausloten und sich auch solidarisch kritisieren, um sich jeweils weiter zu entwickeln. Dafür braucht es keine Forderungen nach einer „linken Einheit“, sondern dies ergibt sich einfach aus der Praxis der Organisierung in einem lokalen, regionalen oder weiteren Kontext. Eben dahingehend greift der Aufruf leider ebenfalls zu kurz und wirkt als eine Kopfgeburt. Meiner Wahrnehmung nach ergibt er sich nicht aus umfassenden Erfahrungen darüber, wie sich das Engagement für emanzipatorische Ziele tatsächlich darstellt, sondern aus einem Abgrenzungsreflex.
Ich stimme Breaking the Spell darin zu, dass es „Selbstbestimmung“ braucht, um eine lebendige anarchistische Bewegung und Kultur zu schaffen. (Aus inhaltlichen Gründen, ist diese eher als Autonomie zu beschreiben, aber er ist klar, was gemeint ist.) Wie bereits gesagt kann ich die Absicht des Aufrufs damit gut nachvollziehen. Im Gegenteil zu den Autor*innen erliege ich damit aber nicht dem Fehlschluss, mich in verbalradikaler Abgrenzung von anderen sozialistischen Akteur*innen definieren zu müssen – und davon meine eigenen Positionen abzuleiten. Vielmehr kann ich auf den Gehalt anarchistischer Positionen vertrauen, weil ich weiß, dass diese auch theoretisch begründet werden können und in gesellschaftlichen Erfahrungen sedimentiert sind. Mehr Menschen als wir glauben, verstehen intuitiv, warum Staat, Kapitalismus, Patriarchat, Nation und Naturbeherrschung abzulehnen sind und dass es wirkliche Alternativen zu diesen Herrschaftsverhältnissen gibt. An Anarchist*innen ist es, dies anzusprechen und zu motivieren, sich beginnend im Hier und Jetzt an die Verwirklichung von libertär-sozialistischen Verhältnissen zu machen.
Mit diesen Annahmen erscheint der Aktionismus gegen irgendwelche „linken“ und „liberalen“ Akteur*innen, den Breaking the Spell formulieren, meiner Ansicht nach als pure Verschwendung von Zeit und Kapazitäten, mit der weiterhin die eigene Glaubwürdigkeit völlig untergraben wird. Darüber hinaus können mit dem identitären Aktionismus und der vorgefertigten Rechtfertigung keineswegs die Ziele erreicht werden, welche damit angestrebt werden. Es sei denn man würde Spaltung als ein Selbstzweck begreifen und daran glauben, dass Aktionen gegen „linke“ und „liberale“ Akteur*innen mit dieser Begründung viele Menschen ins anarchistische Lager bringen würden – was meiner Ansicht ziemlich albern wäre.
Schließlich würde dies ebensowenig dazu führen, dass die anarchistische Szene in ihrem Bewusstsein über sich selbst wächst. Dafür bräuchte es vielmehr kollektive Diskussionsprozesse, geteilte Erfahrungsräume und zumindest punktuell auch strategische und programmatische Überlegungen. Um Menschen davon zu überzeugen, dass Staatssozialist*innen letztendlich ihre Interessen nicht glaubhaft vertreten, sondern diese auf problematische Weise einhegen und vermitteln, bringen die Beißreflexe gegen diese kein Stück weiter. Stattdessen gilt es, selbstorganisierte und autonome Gruppen aufzubauen, welche wirklich funktionieren und offen sind: Kollektivbetriebe, Stadtteilläden, Genossenschaften, Nachbarschaftsversammlungen, Gewerkschaftsgruppen, Aktionsgruppen, Bildungs-, Freizeit- und Kulturvereine, die integrativ sind und ermächtigend wirken.
Selbstverständlich kann es Konstellationen geben, in welchen Anarchist*innen gegen bestimmte „linke“ Gruppen vorgehen sollten. Dies betrifft vorrangig die oft instrumentell durchgesetzten Führungsansprüche autoritärer Gruppen und Personen, wie auch die vereinheitlichende Bündnispolitik der linken Szene oder das parlamentarische Agieren bestimmter linker Politiker*innen, wenn diese offensichtlich soziale Bewegungen befrieden, als Stimmvieh oder Vorfeldorganisationen nutzen. Der Aufruf von Nieder mit den Mörder*innen der Freiheit geht jedoch völlig an der Sache vorbei. Mit seinen vorgeschlagenen Aktionsformen kann die dahinter stehende Absicht, einer Bewusstwerdung des Anarchismus überhaupt nicht umgesetzt werden.
Ganz im Gegenteil wird mit diesem identitären Abgrenzungsreflex regelrecht vermieden, den Anarchismus inhaltlich und theoretisch weiter zu entwickeln. Schließlich ist auch die platte Logik der Feindschaft hochgradig problematisch. Mit ihr wird nicht darauf abgezielt, an der Sache orientierte Ziele zu verwirklichen, sondern völlig verkannt, wie sich die Realität von Bezugnahmen aufeinander und Zusammenarbeit in lokalen linken Szenen tatsächlich gestaltet. Ebenso wird Wirkungsmacht der real-existierenden anarchistischen Szene verkannt – nicht allein hinsichtlich ihrer Marginalität und geringen Bedeutung, sondern – schlimmer noch – ebenso in Bezug auf ihren vorhandenen Einfluss und ihre potenzielle Rolle im Zusammenhang einer sozial-revolutionären Orientierung emanzipatorischer sozialer Bewegungen. Spart euch das Geld für die Plakate für den schlecht begründeten Aktionismus und überlegt lieber, wie ihr gut funktionierende anarchistische Gruppen aufbaut.