„Wir rechnen mit einer heißen Vorweihnachtszeit“

In Hamburg beginnt eine Reihe von Großprozessen zu den G-20-Krawallen. Der Staatsschutz warnt vor Anschlägen und „Solidaritätsstraftaten“. Denn die linke Szene hat massiven Protest zu den „Rondenbarg-Verfahren“ angekündigt.

Die fünf werden am kommenden Donnerstag den Saal 300 im Strafjustizgebäude betreten. Wenn alles so läuft wie bei den bisherigen G-20-Verfahren, dann stehen draußen vor dem Gericht ihre schwarzgekleideten Unterstützer, schenken Kaffee aus und halten Transparente hoch. Das Verfahren rund um die Ausschreitungen im Hamburger Industriegebiet Rondenbarg wird für die Öffentlichkeit unsichtbar bleiben.

Denn die Angeklagten sind so jung, damals erst 16 und 17 Jahre alt, dass die weiteren Prozesstage ohne Journalisten und Publikum stattfinden. Die drei Mädchen und zwei Jungen stammen aus Stuttgart, Mannheim, Halle und dem Raum Köln/Bonn, sie sind nicht vorbestraft. Die fünf sollen Teil einer Gruppe von etwa 150 bis 200 zumeist schwarz gekleideten Personen gewesen sein, die am Morgen des 7. Juli 2017 vom Protestcamp am Volkspark Richtung Innenstadt marschierte.

Im Industriegebiet traf die Gruppe um 6.28 Uhr auf die Polizeieinheit „Blumberg“, einzelne Vermummte warfen faustgroße Steine und schossen Leuchtfeuer in Richtung der Beamten. Getroffen wurde keiner. Die Polizeieinheit überrannte die Gruppe und beschlagnahmte Hämmer, Feuerlöscher, Stahlseile und Pyrotechnik. Den jugendlichen Angeklagten wird nicht vorgehalten, selbst Steine geschmissen zu haben, wohl aber, beim Marsch dabeigewesen zu sein.

Zum sogenannten Rondenbarg-Komplex gehören mehrere Verfahren, es laufen zehn Anklagen gegen insgesamt 76 Angeschuldigte. Die linke Szene hat massive Proteste gegen die Mammut-Verfahren angekündigt, auch Anschläge und Sabotageaktionen sind nicht ausgeschlossen. „Wir rechnen mit einer heißen Vorweihnachtszeit“, sagte der Leiter des für die Aufklärung politischer Straftaten zuständigen Staatsschutzes im Landeskriminalamt (LKA), Claus Cortnumme, WELT AM SONNTAG.

„Wir müssen und werden in den nächsten Wochen besonders wachsam sein, gerade unter dem Eindruck der Rondenbarg-Prozesse“. Er gehe von „Solidaritätsstraftaten“ aus. Besonderes Augenmerk richten die Sicherheitsbehörden auf den 5. Dezember, denn für diesen Sonnabend ruft die linke Szene bundesweit zur Fahrt nach Hamburg auf, um gegen angebliche Repressionen und die Rondenbarg-Verfahren zu demonstrieren.

Die Akte „Roter Aufbau“

Welche entzündliche Wirkung ein Hamburger Prozess entfalten kann, konnten Sicherheitsbehörden in ganz Europa erst kürzlich erfahren, während des Prozesses gegen „Die drei von der Parkbank“. Die drei Angeklagten waren Linksextreme, die Brandanschläge vorbereitet hatten, Ermittler nahmen sie mit Brandsätzen im Rucksack in einem Hamburger Park fest.

Das Verfahren gegen drei, die die Polizei zum innersten Kern der autonomen Szene zählt, wurde von Anschlägen und Sabotageaktionen begleitet, stets versicherten die unbekannten Täter ihre Solidarität mit den Angeklagten. Anfang November verurteilte das Landgericht die drei Linksextremen.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, die drei sind wieder auf freiem Fuß und meldeten sich kürzlich auf einer linksextremen Webseite zu Wort: „Wir sind voller Vorfreude, auf die Straßen zurückzukehren und wieder ohne Mauern, Gitter und Scheiben zwischen uns, Seite an Seite zu kämpfen.“ Erst am vergangenen Wochenende kam es zu einem Brandanschlag auf die Sicherheitsfirma Securitas. Unbekannte begründeten die Tat in einem Bekennerschreiben mit dem „Parkbank“-Prozess, aber auch mit den anstehenden Prozessen.

Unter den 76 Angeschuldigten im Rondenbarg-Verfahren sind auch Personen, die tief in der linksextremen Szene verwurzelt sind. Gleich drei werden nach Informationen von WELT AM SONNTAG zum „Roten Aufbau“ gezählt, einer marxistisch-leninistischen Gruppe, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird und die Demokratie in ihrer jetzigen Form abschaffen möchte. Unter den Angeschuldigten ist auch Halil Şimşek, die Führungsfigur des „Roten Aufbaus“.

Dessen Wohnung in Stellingen durchsuchte die Polizei erst Ende August, zudem 22 weitere Wohnungen. Die Ermittler beschlagnahmten Dokumente und digitale Datenträger, derzeit laufen Ermittlungen gegen die Gruppe wegen des Vorwurfs der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Die Mitglieder werden mit zahlreichen Straftaten in Verbindung gebracht, darunter einen Brandanschlag auf einen ranghohen Polizeiführer.

Die Ermittler des Landeskriminalamts wollen während ihrer Untersuchungen hinter die martialische Fassade blicken, die die Gruppe in der Vergangenheit gerne öffentlich präsentierte. Demonstrationen, insbesondere zum 1. Mai, die der Rote Aufbau in der Vergangenheit anmeldete, endeten oftmals in Ausschreitungen.

Beim G-20-Gipfel vor mehr als drei Jahren könnte der Rote Aufbau neben anderen Gruppen eine tragende Rolle bei der Organisation der Gegenproteste gespielt haben. Nach Informationen von WELT AM SONNTAG liegt ein erster Zwischenstand vor: Das Personenpotenzial der Gruppe ist mit einem harten Kern von zehn bis 20 Leuten deutlich kleiner als gedacht.

Es ergibt sich das Bild eines bunt zusammengewürfelten Haufens aus verschiedenen Milieus. Manche sind mit politisch motivierten Straftaten aufgefallen, andere studieren und besuchen nur die Lesezirkel der Gruppe. Bisher ist es den Ermittlern nicht gelungen, eine „smoking gun“ zu finden, sprich schwerste Straftaten einem Haupttäter zuzuordnen.

Halil Şimşek und seine Mitstreiter stehen dennoch weiter im Fokus, auch wegen der wohl folgenden Rondenbarg-Verfahren. Im ersten Prozess kommende Woche gegen die Jugendlichen werden Staatsanwaltschaft und Verteidigung vor Gericht darüber streiten, ob der Protestzug eine Demonstration war und damit rechtlich besonders geschützt, oder schlicht ein gewalttätiger Marsch.

Die Teilnehmer trugen Transparente, typisch für Demonstrationen, aber einige schmissen eben auch Steine und Pyrotechnik, schon vor dem Zusammenstoß wurden die Scheiben einer Bushaltestelle eingeschlagen. Die Polizeieinheit ging dann rabiat gegen die Gruppe vor, auf einem Polizeivideo des Einsatzes ist zu hören, wie ein Beamter sagt: „Die haben sie schön platt gemacht, alter Schwede.“ Einige Marschierer erlitten Knochenbrüche.

Mitgegangen. Mitgehangen?

Die linke Szene spricht von einem Angriff auf das Demonstrationsrecht, Anja Sommerfeld vom Bundesvorstand der linksextremistischen Solidarorganisation Rote Hilfe e. V. erklärt auf ihrer Webseite: „Die Rondenbarg-Verfahren sind offensichtlich rein politisch motiviert und müssen umgehend eingestellt werden.“

Gerichtssprecher Kai Wantzen sagt: „Die Staatsanwaltschaft wirft den fünf Angeklagten in diesem Verfahren gemeinschaftlichen Landfriedensbruch in einem besonders schweren Fall in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte im besonders schweren Fall, versuchte gefährliche Körperverletzung, Bildung bewaffneter Gruppen und Sachbeschädigung vor.“

Die Anklage sieht die Jugendlichen als Teil einer gewalttätigen Gruppe, die als „Mittäter“ von der mitgeführten Bewaffnung mit Steinen und Pyrotechnik gewusst und deren Einsatz gegen Polizeibeamte und Sachen gebilligt hätten, so ein Gerichtssprecher. Bisher stand nur ein Angeklagter aus dem Rondenbarg-Komplex vor Gericht, der Italiener Fabio V. Sein Verfahren scheiterte, weil die Richterin hochschwanger war und nicht mehr verhandeln konnte. Das Verfahren wird ebenfalls bald neu aufgerollt.

Dieser Text ist aus der WELT AM SONNTAG.

https://www.welt.de/regionales/hamburg/plus221221494/Linksextremismus-G20-Prozess-Hamburg-Polizei-rechnet-mit-Anschlaegen.html?

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passiert am 29.11.20