Es geht um mehr als um die Steinwürfe am Rondenbarg

Fast sieben Jahre nach dem G20-Gipfel in Hamburg stehen zwei Demonstranten noch immer vor Gericht. Ihr Prozess könnte längst zu Ende sein. Aber sie wollen nicht.
Am Schluss sind nur noch zwei Angeklagte übrig, und langsam bleiben auch die Zuschauerinnen und Zuschauer weg. Am ersten Verhandlungstag Mitte Januar im Hamburger Landgericht war der hölzerne Bereich hinter der Trennscheibe bis auf den letzten Platz besetzt. Der Prozess konnte erst mit fast zwei Stunden Verspätung starten – so lange hat es gedauert, bis alle Zuschauenden durch die Sicherheitsschleuse gegangen waren. Sie mussten bei der strengen Kontrolle sogar ihre Schuhe ausziehen. Diesmal aber geht es fast pünktlich los. Die Hälfte der Plätze bleibt frei.
Dabei ist das, was an diesem Verhandlungstag im sogenannten Rondenbarg-Prozess passiert, von großer Bedeutung – politisch wie rechtlich. Dass nur noch zwei von sechs Angeklagten übrig sind, zeigt, in welchem Dilemma die Hamburger Justiz seit den G20-Protesten vor fast sieben Jahren steckt.
Die Gerichte müssen immer noch über viele Männer und Frauen richten, die damals bei den G20-Protesten in Hamburg mit auf der Straße waren. Diejenigen, die selbst Flaschen und Steine auf Polizisten geworfen haben sollen, sind längst abgeurteilt. Die meisten von ihnen waren in Untersuchungshaft, sie standen wenige Monate nach dem Gipfel vor Gericht. Jetzt sind die anderen dran: Männer und Frauen, die bei Ausschreitungen dabei waren, selbst aber keine Gewalt ausgeübt haben sollen.

Zuschauen als Straftat

Am Morgen des 7. Juli 2017 waren G20-Gegnerinnen und Gegner vom Protestcamp im Altonaer Volkspark aus auf dem Weg in die Innenstadt. Unterwegs wurden sie von einer Polizeieinheit gestoppt. Es flogen auch Steine, und die Polizei ging mit Wasserwerfern und Knüppeln gegen die Demonstrierenden vor. Wer damals Steine geworfen und Pyrotechnik gezündet hat, wurde nie aufgeklärt. Sicher ist aber, dass die nun Angeklagten es nicht waren. Das wirft ihnen auch die Staatsanwaltschaft nicht vor. Trotzdem hat sie die Männer und Frauen wegen schweren Landfriedensbruchs angeklagt, darauf stehen zwischen einem halben und zehn Jahren Haft. Das Argument: Die Demonstrierenden seien damals in einer geschlossenen Formation gelaufen. Damit hätten sie den Steinewerfern Schutz geboten und müssten sich deren Gewalt persönlich zurechnen lassen.
Eine umstrittene Sicht. Die Staatsanwaltschaft habe die Sache „relativ hoch aufgehängt“, sagt sogar die Vorsitzende Richterin der Landgerichtskammer zu Prozessbeginn. Und das führt in ein Dilemma: Die Gerichte müssen die Fälle verhandeln, auch wenn sie Zweifel an der Verhältnismäßigkeit haben. „Im Falle einer Verurteilung müsste ein Teil der Strafe bereits als verbüßt gelten“, so die Richterin am ersten Verhandlungstag. „Gut möglich, dass am Ende gar nichts mehr übrig bleibt.“
Es geht also kaum mehr um Strafe, sondern um die Frage: schuldig oder nicht. Für die Auslegung des Demonstrationsrechts ist die Antwort darauf von Bedeutung, aber der Aufwand ist hoch: Vor Gericht stehen sechs Angeklagte mit jeweils ein bis zwei Verteidigerinnen und Verteidigern, die überwiegend aus Süddeutschland anreisen müssen, und das an mindestens 25 Verhandlungstagen bis Ende August. Eine Angeklagte aus Stuttgart erzählte am ersten Prozesstag, dass sie nach ihrer Spätschicht als Fertigungsmechanikerin den Nachtzug bekommen müsse, um pünktlich morgens in Hamburg zu sein. Für den ersten Prozesstag war sie 14 Stunden unterwegs. Einfache Fahrt.

„Wann distanziert sich die Polizei von Gewalt?“

Das Gericht hat sich deshalb einen Ausweg überlegt: Die angeklagten Männer und Frauen sollten sich in einer schriftlichen Erklärung ausdrücklich von Gewalt distanzieren. Dann würde ihr Prozess gegen eine kleine Geldbuße eingestellt.
Zwei Angeklagte haben das getan. Sie haben sich von der Gewalt distanziert und zahlen noch 600 und 300 Euro Geldbuße, dann ist die Sache für sie vorbei. Gegen zwei weitere Frauen kann im Moment aus persönlichen Gründen ohnehin nicht verhandelt werden, ihre Verfahren wurden abgetrennt. Bleiben die beiden Angeklagten Nils J. und Anka L. Das Gericht hatte gehofft, dass auch sie sich von Gewalt distanzieren würden und der ganze Prozess dann direkt beendet werden könnte.
Doch Nils J. und Anka L. sind diesen Schritt nicht gegangen. Die beiden kommen aus Berlin. Auch über ihnen hängt seit Jahren das Damoklesschwert einer Verurteilung. Doch die beiden haben beschlossen, dass der schnelle Ausstieg aus dem Prozess für sie einer Kapitulation gleichkäme. Als würden sie ihre Rechte verkaufen und die aller künftigen Demonstrantinnen und Demonstranten gleich mit. Und deshalb sitzen Nils J. und Anka L. jetzt als Letzte noch hier, in Saal 237 des Hamburger Landgerichts.

Wie weit reicht das Demonstrationsrecht?

Es geht um Grundsätzliches in dem Verfahren. Um die Frage, was politischer Protest darf und was nicht, wo die Grenzen des Demonstrationsrechts liegen und wer wofür haftbar gemacht werden kann – oder eben auch nicht.
Die Anwältinnen und Anwälte von Nils J. und Anka L. verlesen eine Erklärung. Darin fordern sie, dass der Prozess sofort eingestellt wird, und zwar ohne Auflagen. Damals am Rondenbarg sei die Polizei massiv gegen alle Demonstrierenden vorgegangen. 14 Männer und Frauen sind im Krankenhaus gelandet, zum Teil mit schweren Verletzungen. „Aber von uns wird jetzt erwartet, dass wir uns von Gewalt distanzieren. Wann distanziert sich die Polizei davon? Und die Politik?“ fragen sie.
Also wird das Gericht weiter verhandeln, womöglich noch viele Tage. Es muss die Frage klären, ob den Demonstrierenden vom Rondenbarg die Steinwürfe anderer Einzelpersonen zuzurechnen sind.
Die Antwort wird nicht nur über Schuld oder Unschuld der beiden Angeklagten entscheiden. Daran hängt noch sehr viel mehr. Denn dies ist nicht der einzige Prozess im Hamburger Rondenbarg-Komplex. Es gibt über 70 weitere Anklagen, die noch nicht vor den Gerichten verhandelt worden sind.
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