Antifa-Debatte: Wieder eine Antwort auf Josephine Babeuf
Kürzlich veröffentlichte Joséphine Babeuf einen Text, der eine Antwort auf unseren Text (und einen Text von der Gruppe alea) sein soll. Aber weil das, was wir in unserem Text schrieben, „weder Kritik, noch Arbeit am Begriff“ war, nur ein „Herumwerfen mit Vorstellungen und Gefühlen“, war es nicht möglich, direkt zu antworten. Stattdessen musste die arme Joséphine Babeuf erst einmal mit einem Fehler, den wir gemacht hatten, auseinandersetzen: „Es wurde nicht erklärt, was MarxistInnen mit „Partei“, „Avantgarde“ etc. meinen und warum diese Konzepte falsch sein sollen.“ Daher musste eine Auseinandersetzung damit, wie sich diese „Fehler in [unseren] Analysen konkret äußern“, auf die Zukunft und einen verheißungsvoll angekündigten zweiten Teil verschoben werden. Wir warten natürlich gern, bis Joséphine Babeuf „konkret“ wird und aufzeigt, was an unseren Analysen falsch ist, aber so gern dann doch auch wieder nicht. Daher versüßen wir uns die Wartezeit einfach ein bisschen mit dem Brei, den wir zuletzt serviert bekommen haben, und matschen etwas damit herum, bis es den nächsten Gang gibt. Allerdings ist, bei allem erkennbaren Wunsch nach Klarheit, ohnehin schon alles einigermaßen durcheinander bei dem, was Joséphine Babeuf geschrieben hat, weswegen auch das schon einiges an Mühe bedeutet. Fangen wir mal an.
1. Antifa-Debatte
Es ging uns, als wir unseren ersten Text geschrieben haben, nicht um eine Auseinandersetzung mit dem Marxismus-Leninismus, sondern es ging darum, dass Antifa-Gruppen aus dem Westen mit großem Getöse ankündigten, nun endlich etwas gegen den Rechtsruck im Osten zu machen. Dieses Getöse war sowohl vom Inhalt als auch vom Gestus geprägt von Unkenntnis über die Verhältnisse im Osten und von der eigenen politischen Verwirrung der Akteure, die einen wilden Wust an unreflektierten Theoriefragmenten um sich warfen, mit denen sie dann die „Zeit zu handeln“ einläuten wollten. Demgegenüber war es geboten, klarzumachen, dass freundlich gesagt, eine solche Initiative nicht die Hilfe darstellt, die zu bieten sie behauptet, und dass solches Auftreten nicht geeignet ist, um gegen die anhaltende faschistische Entwicklung vorzugehen, sondern dass dies sowohl vom Ziel als auch vom Inhalt nicht mehr ist als eine Fantasie über das, was gerade passiert. Hieraus hätte sich eine interessante Debatte entwickeln können, aber das tat sie nicht. Die Beteiligung blieb leider gering; stattdessen haben wir nun eine Debatte nicht mehr über die faschistischen Entwicklungen und was Antifa heute bedeutet, sondern um den Marxismus-Leninismus, weil Joséphine Babeuf, beleidigt von der Kritik am Aufruf „Zeit zu handeln“, schnell ein wenig Schützenhilfe für die Initiative liefern wollte und den Verfasser:innen des Aufrufs allerlei gut durchdachten Marxismus-Leninismus unterschob und uns zum anderen vorwarf, gegenüber diesen nachträglich gelieferten Argumenten mit unserer Kritik fehlzugehen. Das war schon von Anfang an ziemlich hilflos, aber für uns ein wenig interessant, weil eine Auseinandersetzung mit dem Marxismus-Leninismus nottut, vor allem, weil deren Anhänger:innen ja gerade ihr Heil darin finden, die marxistisch-leninistischen Theorien zu verbreiten und mit ihrer stümperhaften Praxis gerade da einem das Leben schwer machen, wo es wichtig wäre, sich antifaschistisch zu reorganisieren. Dazu aber tragen die Verfechter:innen des Marxismus-Leninismus nichts bei und dazu trägt auch Joséphine Babeuf nichts bei und das klarzustellen ist und bleibt ein Anliegen, weswegen wir uns um diese Auseinandersetzung nicht drücken.
2. Zur Ablehnung der marxistischen Analyse
Unser Vorwurf aber, dass diese Strukturen bei aller Organisationsfixierung nur um sich selbst und ihre Träume von der proletarischen Revolution kreisen, wird durch den neuen Text von Joséphine Babeuf nur bestätigt, gerade da, wo sie sich genötigt fühlt, Begriffe des Marxismus-Leninismus zu erläutern, von denen sie uns vorwirft, dass wir sie nicht ordentlich eingeführt haben. Es mag für Joséphine Babeuf vielleicht schwer verständlich sein, aber der Grund, warum wir diese Begriffe nicht einführen, wie es dem Marxismus-Leninismus nach richtig wäre, der besteht ja darin, dass wir keine Anhänger des Marxismus-Leninismus sind. Daher nutzen wir auch die Begriffe nicht in dessen Sinne, sondern in ihrer allgemeinen Bedeutung. Joséphine Babeuf geht ja davon aus, dass, wenn man etwa von Avantgarde, von Propaganda, usf. spricht, dieses nur dann legitim ist, wenn man dies auf die Weise tut, wie es die Anhänger:innen des Marxismus-Leninismus tun. Es ist im Übrigen nicht in Ordnung, wenn JB hier schon in der Einleitung zu ihrem Text schreibt: Wir würden diese „Begriffe als zentralen Grund für [unsere] Ablehnung der marxistischen Analyse“ nennen. Wir für unseren Teil wenden uns nicht gegen „die marxistische Analyse“, sondern wenn, dann wenden wir uns gegen den Marxismus-Leninismus, der in vielen Punkten ja selbst eine Abkehr von der marxistischen Analyse darstellt, von Marxisten-Leninist:innen gerne als „Erweiterung“ oder „Fortführung“ von Marx interpretiert. Dies aber einfach, wie das JB tut, als marxistische Analyse verkaufen zu wollen, ist ein ziemlich lahmer Versuch, die Kritik am Marxismus-Leninismus zu einer Kritik am Marxismus unzudeuten, und dem sei hier einfach mal in aller Deutlichkeit widersprochen. Insbesondere die Betonung der Rolle der Avantgarde ist eine „Erweiterung“ die explizit auf Lenin zurückzuführen ist und die sich so bei Marx nicht findet, ebenso die Betonung der Rolle der Partei, ebenso die Vorstellung, dass die Revolution in einem Land erfolgreich sein könne und ebenso auch die „Erweiterung“ der marxistischen Analyse hin zum Imperialismus. Wenn wir uns also gegen die Vorstellung der Avantgarde usf. wenden, dann wenden wir uns damit nicht gegen Marx, vielmehr nehmen wir seine Analyse gegen ihre „Fortführer“ in Schutz.
3. Arbeit am Begriff
JB wirft in den Raum, dass wir keine Arbeit am Begriff leisten, sondern mit Gefühlen und Vorstellungen herumwerfen, und möchte dann gleich fleißig zeigen, dass sie aber genau weiß, was es mit der Arbeit am Begriff auf sich hat. Dazu müssen wir sagen, dass wir jetzt mit unseren Gefühlen und Vorstellungen nicht „herumwerfen“, aber es stimmt natürlich, wir haben sowohl Gefühle als auch Vorstellungen, und wir tun auch nicht so, als hätten wir keine, auch nicht, wenn wir Texte schreiben, weil das, worum es geht, das ist nicht etwas, was mit uns nichts zu tun hat, es betrifft uns, wir sind involviert. Wenn das als störend angesehen wird, so entschuldigen wir uns. Wir können und wollen nicht anders. Wir lassen uns auch gerne einmal vorwerfen, dass wir unsere „Arbeit am Begriff“ nicht ausreichend geleistet haben. Schließlich ist diese Arbeit am Begriff keine Nebensächlichkeit, sondern eine zentrale Sache, so dass es kaum möglich ist, sie die ganze Zeit und für jeden Begriff jederzeit durchzuführen. Nun, das wurde uns ja auch nicht vorgeworfen, sondern es wurde uns vorgeworfen, dass wir die „Arbeit am Begriff“ nicht geleistet hätten, bezüglich der Begriffe „Partei“, „Avantgarde“, „etc.“ Aber – dem Bezug auf die Dialektik von Herr und Knecht und einer Kurzdarstellung von dem, was Hegel unter der Arbeit am Begriff versteht, zum Trotz – JB verwechselt nun ganz ungünstigerweise diese von ihr selbst stark gemachte Arbeit am Begriff mit einer handelsüblichen Definition eines Begriffs. So sagt sie etwa in Bezug auf den Begriff Propaganda: „Was weder die „Ostdeutsche Antifas“ noch alea zu verstehen scheinen, ist, dass der Begriff Propaganda im marxistischen Sinne nichts damit zu tun hat, die Leute hinters Licht zu führen, im Gegenteil. Erst in den 1920er Jahren kam die Bedeutung auf, die Propaganda heute umgangssprachlich besitzt. Zu dieser Zeit wurde der Begriff schon lange von Marxistinnen benutzt, wie er ursprünglich in der französischen Revolution bei den Jakobinern vorkam: Als Verbreitung politischer Ideen.“ Und das, liebe JB, das ist das Gegenteil von der „Arbeit am Begriff“, um nur ein Beispiel zu nennen. Denn hier wird ja gerade nicht versucht, den Begriff in seinem gesamten Umfang zu sehen, ihn daher auch in seiner sich wandelnden Bedeutung zu erfassen oder gar in seiner Eigenbewegung zu betrachten. Stattdessen wird gesagt: Der Begriff Propaganda, der bedeutet einfach das, was die MarxistInnen dazu gesagt hat, und die Jakobiner haben es auch schon gesagt. Und wesentlich weißt du nur dazu, was Lenin zu diesem Begriff gesagt hat, und weil du davon ausgehst, dass der Lenin schon ein ordentlicher Dialektiker gewesen ist, da glaubst du eben, dass wenn du nimmst, was er sagt, dass du dann den Begriff in seiner Eigenbewegung schon erfasst haben wirst. Aber das ist leider nicht so einfach. Wenn du jetzt schon von der Arbeit am Begriff redest, dann musst du diese Arbeit schon selber leisten und dann musst du ja auch und gerade und insbesondere die Bedeutungen mit hinzunehmen, die dir nicht in den Kram passen und die aber nun mal auch zum Begriff dazugehören. Vielmehr wäre ja zu untersuchen, wenn du das mit der Arbeit am Begriff wirklich ernst gemeint hast, wieso es denn zu dieser Bedeutungsverschiebung gekommen ist und zwar, wenn du bei Hegel bleiben willst, aus der Selbstbewegung des Begriffs heraus, was wir jetzt mal ein wenig vereinfachen und sagen: es geht darum, zu schauen, wie quasi diese dir ganz und gar nicht passende Bedeutung schon im ursprünglichen Begriff von Propaganda angelegt gewesen ist, auch schon bei den Jakobinern und auch schon bei den Marxist:innen und ganz besonders auch bei Lenin. Was du aber stattdessen gemacht hast, dass ist die Verwendung des Begriffes Propaganda in einen „alltäglichen“ Gebrauch und in einen „marxistischen“ Gebrauch aufzuteilen und so zu tun, als seien es zwei verschiedene Begriffe. Damit betrachtest du ihn aber nicht mehr dialektisch, und wenn wir darüber übereinkommen können, dass die Dialektik schon ziemlich gut geeignet ist, die Welt um sich herum zu verstehen, dann hast du einen Fehler in deiner eigenen Sache gemacht.
4. Dialektik
Wo wir gerade beim Thema sind: Die Dialektik. Da sagst du brav: „Dabei ist Dialektik, vereinfacht gesagt, die Eigenbewegung der Begriffe aus ihrer eigenen Logik heraus.“ Ja, „vereinfacht gesagt“, ist das irgendwie „ok“, aber das ist jetzt doch nicht das, was jetzt eine gute Zusammenfassung der Dialektik ist und auch schon nicht für Hegel, aber doch insbesondere nicht für Marx, weil Marx ja gar nicht so gerne dabei stehenbleiben wollte, die Eigenbewegung der Begriffe zu betrachten. Du hast doch sicher schon mal diese Marxschen Powersätze gehört, dass es Marx darum geht, die „Philosophie vom Kopf auf die Füße zu stellen“ oder vielleicht auch den hier: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt drauf an, sie zu verändern.“ (aus seinen Thesen über Feuerbach, liebe JB). Und da müssen wir anscheinend ja noch erklären, dass es dem Marx nicht so sehr wie dem Hegel um die Selbstbewegung der Begriffe ging, sondern ja gerade auch um die Widersprüche innerhalb der wirklichen Welt, und allen beiden ging es unter anderem auch um den Widerspruch zwischen Begriff und Welt. Und da ist das dann auch insbesondere so, dass – um nochmal kurz auf das mit den Begriffen zurückzugehen – hier nicht die Wirklichkeit dem Begriff genügen muss, sondern der Begriff der Wirklichkeit. Und wenn er das nicht tut, wenn er also sich in einem Widerspruch zu dem befindet, was mit ihm erfasst werden soll, dann kommt alles in Bewegung, und dann haben wir es ein bisschen mit der Dialektik zu tun. Eine Dialektik aber, mit der man versucht, irgendwie im Recht zu bleiben, auch und insbesondere gegenüber einer sich wandelnden Welt und Wirklichkeit. Die hört dann leider auf, eine solche zu sein, und das, JB, ist auch ein bisschen das Problem mit deiner Liebe zum Marxismus-Leninismus. Denn wie sich an der von dir wehmütig vermissten Sowjetunion erkennen ließ und zwar schon sehr, sehr früh, das ist eben genau das, dass hier die Dialektik zu einem Herrschaftsinstrument geworden ist. Und da kann man eben nicht einfach dran vorbeigehen und sagen: Ja, das ist dann die falsche Dialektik, wir müssen einfach nur richtig Dialektik betreiben, dann läuft es schon, nein: Das ist in der Dialektik eben auch angelegt und wer es mit der Sache ernst meint, der muss sich das vergegenwärtigen und reflektieren, anstatt zu sagen: ist nicht so, weil passt mir nicht.
5. Herr und Knecht
Jetzt wurde ja im Kapitel „Dialektik von Herr und Knecht bzw. Bourgeoisie und Proletariat“ ganz schön etwas zur Dialektik von Herr und Knecht gesagt. Und das – wir verstehen es – ja auch nur in aller Kürze, aber in dieser Kürze liegt ja dann auch ein Problem, weswegen man sich das nach unserer Auffassung immer zweimal überlegen sollte, ob man eine Sache einfach mal so schnell abhandeln will, aber es hat ja auch was Ehrenwertes, es zu versuchen. Leider geht es ja schon in der Überschrift los mit einer falschen Vermengung dieser Dialektik von Herr und Knecht, wenn gesagt wird: „Herr und Knecht bzw. Bourgeoisie und Proletariat“, ganz so, als handle es sich bloß um zwei unterschiedliche Ausdrücke für das Gleiche. Ja, bei Hegel geht es um Herr und Knecht und Hegel entfaltet das auch mehr aus den Begriffen heraus, wie das zuvor mit der „Selbstbewegung der Begriffe“ schon erwähnt wurde. Aber ganz so einfach geht das nicht. Denn Hegel spricht mit „Herr und Knecht“ von einem Selbstbewusstsein, welches auf ein anderes Selbstbewusstsein trifft, und welche dann, um sich als Selbstbewusstseine zu behaupten, in einen Kampf auf Leben und Tod eintreten. Wem das jetzt nichts sagt, der kann sich beruhigen. Ohne den Rest der „Phänomenonlogie des Geistes“, welche sich um die Entfaltung des Bewusstseins hin zum Geist dreht oder um „das werdende Wissen“, wie es bei Hegel heißt, ist das auch gar nicht so einfach zu verstehen. Aber eines ist sicher: in keinem Fall geht es bei Hegel um „Bourgeoisie und Proletariat“. Es stimmt: Bei Hegel ist das Verhältnis zwischen dem Herrn und dem Knecht widersprüchig: Im Kampf der beiden Selbstbewusstseine sieht das eine ein, dass der Kampf sinnlos ist, das andere Bewusstsein siegt und wird zum Herrn, das andere zum Knecht. Der Herr hat zwar gesiegt, doch er tritt in einen entwicklungslosen Zustand ein, in welchem er vom Knecht abhängig ist, während der Knecht zwar verloren hat, aber durch seine Tätigkeit lebendig und beweglich bleibt und sich die Welt durch seine Arbeit aneignet. Diesen Zustand können sie nur durch wechselseitige Anerkennung aufheben, dh indem sie sich ihrer Selbst in diesem Verhältnis wechselseitig bewusst werden. Und bei Hegel geht es hier nicht um einen echten Knecht oder einen echten Herren, sondern es geht um ein abstraktes Verhältnis, und hier kann es also auch um die Selbstbewegung des Begriffs gehen.
Es ist jetzt aber nicht so, dass Marx jetzt Hegel nimmt und sagt: Aha, ist ja wie bei Proletariat und Bourgeoise. Und Marx guckt sich gerade kein abstraktes Verhältnis an, sondern die realen Verhältnisse. Und sicher bezieht er sich dabei auf Hegel, aber nicht in dem Sinne, dass er denkt, dies sei die Theorie zur proletarischen und bourgeoisen Wirklichkeit, als handele es sich bei Hegel um eine Art abstrakten Beweises dafür, dass am Ende das Proletariat die Bourgeoisie stürzt und alles ist gut. Genau dies aber behauptet JB. Es ist aber falsch: Die Dialektik von Herr und Knecht bietet keine Handlungsanweisung für das Proletariat.
Wenn man es allerdings so begreift, wie JB es vorlegt, dann wird das von Hegel beschriebene Verhältnis von Herr und Knecht zum theoretischen Beweis, dessen Überzeugungskraft aus einer in den Begriffen selbst liegenden Wahrheit kommt. Und diese Wahrheit liegt deswegen in der Sache, weil es dem Begriff nach in der Sache liegt.
6. Zum Ökonomismus
Im weiteren Verlauf nimmt aber JB diesen „Beweis“, um die weitere Argumentation aufzubauen. Was also hat es mit der Dialektik von Herr und Knecht in Bezug auf das Proletariat nach JB auf sich? Erst einmal ist es so: „Es gibt keinen Automatismus, den Willen der Bourgeoisie, also des Wertgesetzes, abzulehnen.“ Die „Wahrheit“ des Hegelschen „Beweises“ ist nach JB also zwar gegeben, aber sie verwirklicht sich nicht von alleine. Damit diese Wahrheit vom Begrifflichen ins Konkrete überwechselt, muss noch etwas getan werden, also die realen Knechte, das Proletariat, die müssen für sich das leisten, was der Hegel theoretisch gefasst hat. Sie müssen also – analog zum Knecht bei Hegel – ihr Selbstbewusstsein entfalten, und das ist dann eben das Klassenbewusstsein. Von alleine geht nichts, das sahen dann auch Lukács und Lenin so: Es ist kein im Kapitalismus liegender Widerspruch, der den Zusammenbruch von alleine herbeiführt. Es muss jemand dazu beitragen, dass der Kapitalismus zusammenbricht. Sofern kein Mensch opponiert, wird der Kapitalismus Probleme, die in ihm auftreten, ökonomisch lösen, oder wie es bei JB heißt: „Für den Kapitalismus gibt es keine rein ökonomisch auswegslose Situation.“ Diese kommt eben erst durch das sich bewusst werdende Proletariat.
Schauen wir uns das mal genauer an, wie so eine ökonomische Lösung aussieht, wenn wir annehmen, das Proletariat hat kein Klassenbewusstsein, sondern setzt sich ohne ein solches Bewusstsein für seine Interessen ein: Das Proletariat ist unzufrieden, weil es nicht genug von irgendwas hat, und so demonstrieren die Arbeiter. Sie entfalten Druck und die Kapitalisten lösen es mit Geld, also sie geben den Arbeitern eine Summe x, sagen wir 100,– €. Und die Arbeiter gehen wieder auf die Straße und die Kapitalisten merken: Diesmal müssen wir ihnen noch mehr Geld geben, diesmal 200,– €. Und beim nächsten Mal 400,– € usf. Und dann ist der Kapitalist irgendwann pleite, weil er hat den Proletariern ALLES Geld geben müssen, weil die haben sich nicht kleinkriegen lassen. Der Kapitalist ist nun besitzlos und muss seine Arbeitskraft verkaufen, und an wen? An die neuen Kapitalisten, die ja nun alles besitzen, diejenigen, die vorher das Proletariat bildeten. Der Kapitalismus hat sich gar nicht verändert, nur wer an welchem Posten ist, hat sich geändert. Und dieser Gedanke ist ganz plausibel, vor allem, weil in der Realität die Arbeiter schon viel früher aufhören, mehr Geld zu fordern, also schon mit ein paar hundert Euro zufrieden sind. Es ist hieran aber auch zu erkennen: Wenn wir so an die Sache herangehen, dann sind Probleme im Kapitalismus für das Proletariat auch immer nur ökonomische Probleme.
Wenn aber die Unzufriedenheit der Arbeiter aus ihrer ökonomischen Lage besteht und der Kapitalismus seine Probleme, insbesondere die ökonomischen, eben mit Geld lösen kann – was bewegt dann das Proletariat dazu, etwas anderes zu tun, als für mehr Geld zu kämpfen, also etwa die Klassengesellschaft abzuschaffen? Nach JB, wie wir sie bisher verstanden haben, wäre das ja die Einsicht in die Dialektik von Herr und Knecht. Das Proletariat kommt durch Reflexion zu der Einsicht, wie unsinnig der ganze Zauber ist, und entscheidet sich, ihn abzuschaffen, nicht nur im eigenen Interesse, sondern auch im Interesse des Herrn. Es schafft also die Klassengesellschaft ab, aus der sich der Herr aufgrund seiner Untätig- und Regungslosigkeit nicht befreien kann.
Es stellt sich im Anschluss daran eine weitere Frage: Wie kommt denn nun das Proletariat darauf, auf die Dialektik von Herr und Knecht zu reflektieren, zu erkennen, wie unsinnig und irrational das alles ist.
Darauf gibt JB die folgende Antwort: Es kommt dazu, „wenn sich das Proletariat weigert, massive Verschlimmerungen der Lebenslage, egal ob unmittelbar ökonomische oder politische, hinzunehmen“. Dann „kommt und dieser Wille weder durch die Bourgeoisie, noch den Staat gebrochen werden kann.“
Ja, verflixt noch mal, es ist also doch die „unmittelbare Verschlimmerung der ökonomischen Lage“, die das Proletariat zum Widerstand bringen kann, also genau das, was wenige Sätze zuvor bestritten wurde, weil Unzufriedenheit mit der ökonomischen Lage vom Kapitalismus ja gerade einfach befriedigt werden kann. Es wurde ja zuvor gerade erst erläutert, dass es eben und genau nicht die ökonomische Lage ist. Wie kann denn das sein, dass JB diese dann doch wieder als Grund anführt, obwohl sie diesem Grund zuvor – mit Bezug auf Lenin und Lukács – explizit widersprochen hat?
Aber wir wollen nicht unfair sein, denn es wird ja gesagt, dass es die Verschlechterung der ökonomischen oder politischen Lage ist. Nehmen wir also die ökonomische Lage weg, dann bleibt als Auslöser übrig, dass die politische Lage sich verschlechtert.
Aber was soll um alles in der Welt das Proletariat eine Verschlechterung der politischen Lage interessieren, wenn sich diese nicht ökonomisch ausdrückt? Gegen welches politische Verhältnis soll denn das Proletariat abseits einer ökonomischen Lage protestieren, weil diese politische Verschlechterung eine Bedrohung jenseits des Ökonomischen darstellt? Das Einzige, was hier einsichtig ist, wären a) unzumutbare, weil gesundheits- und lebensgefährdende Arbeitsbedingungen oder b) Krieg. Beides wäre aber auch ohne eine Aufhebung der Klassenlage zu ändern, denn das Problem der schlechten Arbeitsbedingungen löst sich, wenn wir es runterbrechen, ja erneut in ein ökonomisches Problem auf. Der Bourgeoise will kein Geld für den Arbeitsschutz ausgeben. Wenn das Proletariat aber dagegen aufbegehrt, gibt er das Geld für den Arbeitsschutz aus und die Sache ist erledigt. Und der Krieg? Der Krieg bedroht das Leben aller und insbesondere das des Proletariats. Es ist ganz einsichtig, dass das Proletariat gegen ihn opponiert, aber das Ende des Krieges würde ja die Gründe für eine solche Opposition beenden. Im Krieg liegt für sich genommen gar kein Grund, aufgrund der eigenen Klassenlage nun über die Dialektik von Herr und Knecht zu reflektieren.
Dieser Grund muss also immer noch aus etwas anderem kommen, damit eine revolutionäre Lage eintritt. JB sagt: „Eine solche Lage entsteht nur, wenn sich das Proletariat bewusst zum Widerstand entscheidet und dieser Wille weder durch die Bourgeoisie, noch durch den Staat gebrochen werden kann“, denn nur „das klassenbewusste Proletariat versperrt dem Kapitalismus den Ausweg aus der Krise“.
Holterdiepolter kommt nun von JB ein neuer Begriff hinzu, der Begriff der „Krise“. Und da dürfen wir doch einmal ganz verwundert sein, denn wurde uns nicht nachdrücklich vorgeworfen, Begriffe zu benutzen, die wir nicht eingeführt haben? Uns macht das nichts, aber JB fand das ziemlich anstößig. Da wundert es doch schon, dass nun der Begriff der Krise einfach mal so eingeworfen wird, ohne ihn, wie JB es ja dem eigenen Maßstab nach tun müsste, ordentlich einzuführen? Aber vielleicht kommt ja noch was im nächsten Text dazu. Freundlich wie wir sind, gehen wir natürlich davon aus, dass JB schon eine ordentliche Definition der Krise parat hat.
Es muss also eine Krise her, damit das Proletariat irgendetwas zu versperren hat. Was aber ist denn eine Krise im Kapitalismus, wenn keine ökonomische Krise? Wir sind jetzt nicht so Lenin-versiert wie JB, aber wir meinen doch, uns grob daran zu erinnern, dass es etwas zu tun hat mit einer wirtschaftlichen Stagnation, die dann zu einer Überproduktion von Waren führt, die dann aber von den Proleten nicht mehr gekauft werden können, weil die Steigerung der Löhne mit der Steigerung der Produktion nicht mithalten kann. In der Folge kommt es dann zu sozialen Unruhen, in welchen sich die Möglichkeit bietet, dass eine Revolution stattfinden kann. Und weil das kein Automatismus ist, braucht es eben noch eine weitere Zutat, damit es endlich richtig knallt, die Arbeiter also nicht nur nach höheren Gehältern rufen, sondern Revolution machen: Die Kommunistische Partei und deren engagierte Agitation und Propaganda, aber dazu kommen wir erst später, weil ja JB erst einmal den Eindruck hat, die Sache nun ganz ordentlich und stichhaltig dargestellt zu haben, und uns in der Defensive wähnt: wir müssten nun zeigen, wo der Fehler ist. Und weil JB denkt, das es keinen Fehler gibt, vor allem nicht in dieser Darstellung, wie es mit dem Herrn und dem Knecht usw. zugeht, da denkt JB, dass wir ein anderes Argument bräuchten, nämlich das Verdinglichungsargument, mit dem wir dann sagen könnten: Das mit dem Herrn und dem Knecht stimmt zwar, aber das Proletariat kann es trotzdem nicht, weil es durch die Verdinglichung davon abgehalten wird.
7. Verdinglichung und revolutionäres Proletariat
JB wendet sich also dem „Verdinglichungsargument“ zu und erläutert in Bezug auf Lukács‘ Aufsatz zur Verdinglichung, dass der Proletarier zwar durch die Verdinglichung verstümmelt wird, aber nicht seines menschlich-seelischen Wesens beraubt wird. Weil er dieses menschlich-seelische Wesen behält – es kann ihm auch beim Kauf seiner Arbeitskraft nicht abgekauft werden – ist er fähig, seine eigene Verdinglichung zu begreifen. Zwar nicht automatisch, aber eben potentiell, und dadurch sind die Voraussetzungen für das Proletariat erfüllt, zum Klassenbewusstsein zu kommen. JB kommt nun darauf hinaus, dass es nun gerade nicht so ist, dass die Verdinglichung das Proletariat davon abhält, zum Bewusstsein seiner Klasse zu kommen, und dass man zu dieser letzten Haltung nur kommen kann, wenn man sich „einer ernsthaften Analyse“ verweigert und nutzt die Gelegenheit, auf „die Ironie hin[zu]weisen, dass diejenigen „kritischen“ Antifas, die KommunistInnen in der Tradition Lenins vorwerfen, ein elitistisches Modell zu vertreten, gegen alle Beweise behaupten, durchschnittliche ArbeiterInnen sind dank einer weiter nicht erläuterten Verdinglichung unfähig, ihre Lage zu verstehen“. Ach je, wo soll man da anfangen? Erst einmal, liebe JB, ist das, was Du da ablieferst, kein „Beweis“. Du referierst sehr knapp und sehr oberflächlich über den Aufsatz von Lukács und weiter nichts. Es wirkt ja nicht einmal so, als ob du ihn ganz gelesen, geschweige denn verstanden hättest. Wo du Lucács auf jeden Fall arg unrecht tust, ist auf jeden Fall, ihn auf diese völlig undialektische Position, die du dann vertrittst, herunterzubrechen. Lucács geht mitnichten davon aus, dass die Verdinglichung der Arbeiter einfach nur die Voraussetzung ist dafür, dass das Klassenbewusstsein sich entfalten kann. Er beschreibt es ja zugleich als das Hemmnis davon. Das hast du ja auch selber fast erkannt, wenn du ihn da zitierst, wo er eben sagt, dass die Seele verkümmert, oder wo du selber sagst, dass das mit dem Klassenbewusstsein kein Automatismus ist. Lukács befasst sich, um es hier auch nur kurz anzureißen, eben doch nicht auf so eine holzschnittartige Weise mit seinem Gegenstand, sondern er ist ja durch und durch Dialektiker und beschreibt den Verdinglichungsprozess doch seinem Umfang nach und nicht in der von Dir vorgenommenen Beschränkung. Und er war sich, wie Du ja hoffentlich auch, doch der Realität bewusst. Daher kam ja auch die Auseinandersetzung mit dem Thema der Verdinglichung, dass es gar nicht zu dieser Bewusstseinsbildung des Proletariats kam, und da hat er eben nach Gründen dafür gesucht. Und dieser Grund ist die Verdinglichung. Das kann doch nicht wahr sein, dass Du diesen Aufsatz liest und das nicht bemerkt hast. Schließlich hat sich ja auch Lenin schon mit der Frage befasst, wieso das Proletariat in anderen Ländern gar nicht dazu neigt, eben eine richtige Revolution zu machen, sondern sich damit zufrieden gibt, was eben die Sozialdemokratie in der Lage ist zu erstreiten, und dabei hat er sich ja schon auf die Entfremdung bezogen, die ja schon bei Marx eine sehr wichtige Rolle spielte. Und Lukács hat diesen Gedanken aufgegriffen, die Verdinglichung ins Feld geführt und gesagt, dass es gerade der Umstand ist, dass die Arbeiter selbst zur Ware werden, und dass ihre sozialen Beziehungen und ihr Denken und auch ihr Selbsterleben eben von dieser Verdinglichung betroffen und sie sich deswegen ganz und gar fremd sind, sowohl sich selbst, als auch den anderen Arbeitern. Wenn dies nicht so wäre, dann bräuchte es ja den ganzen Firlefanz mit der Avantgarde gar nicht, dann würde das Proletariat, wie das ja Marx noch angenommen hat, aus eigener, innerer Kraft heraus zum Bewusstsein seiner Klasse kommen, eben dadurch, dass die Arbeiter ihre Lage kollektiv begreifen.
Dass Du das alles nicht verstehst, das haben wir ja schon gesehen, als du die Herr und Knecht-Dialektik von Hegel als theoretischen Beweis für die Fähigkeit des Proletariats zu seiner Befreiung und damit zur Befreiung der Gesellschaft ansiehst. Damit erscheint diese Fähigkeit des Proletariats eben zeitlos, d. h. zu jeder Zeit möglich, weil das ja im Verhältnis drinliegt. Aber wenn du genau hinschauen würdest – sowohl in die Welt, die dich umgibt, als auch in die Theorien, die du gut findest – dann hättest du ja erkennen müssen, dass da gerade nicht angenommen wird, dass es so etwas wie ewige Werte oder gleichbleibende allgemeine Bedingungen gibt, sondern dass da erkannt wurde, dass Theorie immer einen Zeitkern hat. Das hat übrigens auch schon Hegel so gesehen, da wo er sagt: „Die Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken gefasst“, womit gemeint ist, dass sich das Denken immer auf die konkrete, gegenwärtige Zeit beziehen muss. Und das haben eben sowohl Lenin als auch Lukács gemacht: Sie haben über ihre Zeit reflektiert und versucht, einen theoretischen Begriff davon zu machen. Und da haben sie, wie gerade schon erwähnt, eben feststellen können, dass sich die Theorie von Marx in Bezug auf das Zustandekommen des Klassenbewusstseins überholt hat, also nicht mehr aktuell ist und sie haben versucht, was Du in deinem ersten Text gefordert hast, die Theorie auf die Höhe ihrer Zeit zu heben. Du hebst jetzt aber nicht die Theorie auf die Höhe deiner Zeit, sondern versuchst, die Gegenwart in die Betrachtung von 1923 zurückzubiegen, und ignorierst dabei alles, was in der Zwischenzeit passiert ist. Du glaubst ja anscheinend, dass, wenn Du Dich mit ein paar griffigen Zitaten bewaffnest, Du quasi schon die Waffe der Kritik in der Hand hältst und damit jetzt anfangen kannst, das zu machen, was Du als Agitation verstehst. Aber, liebe JB, auf diesem Niveau spielst Du nur Agitation und Du willst, dass andere in das Spiel mit einsteigen.
Ein weiterer Punkt, den Du ganz offensichtlich nicht verstehst, ist, dass es für Lukács gar nicht ergebnisoffen war, womit er sich da befasst hat, weil da auf jeden Fall herauskommen musste, dass das Proletariat noch diese Fähigkeit zur Revolution haben muss, und das tat er nicht aus tatsächlichen Gründen, sondern aus strategischen und politischen Gründen. Der Lukács wollte doch, dass das Proletariat zum Klassenbewusstsein kommt, und da hat er seine Theorie an diesem Wunsch und an dieser Hoffnung ausgerichtet, und das kann man ihm aus gutem Grund auch einfach nachsehen. Der Aufsatz ist aus vielerlei Gründen lesenswert. Worum es schon Lenin ging, und worum es dann in der Folge auch allen seinen Anhängern ging, und auch Dir geht, ist ja, dass es für die Revolution, so wie sich das vorgestellt wird, eine Masse gebraucht wird, die bereit ist, für die Revolution das Leben aufs Spiel zu setzen und bereit ist, in den Tod zu gehen, wenn es sein muss. Und eine solche Masse, die ist halt sehr schwer zu kriegen, und das Proletariat, wenn man es sich anschaut, das wirkt eben recht überzeugend dafür, dass es diese Masse abgeben könnte: Es sind viele und dadurch, dass sie arbeiten, sind sie auch in der Lage, praktisch Hand anzulegen, wenn es sein muss. Was aber das Problem ist: Sie haben eben offenkundig kein Interesse daran, ihr Leben aufs Spiel zu setzen und im Zweifel für die Revolution in den Tod zu gehen, sondern sie möchten in der Regel ihr Leben, so bescheiden es auch im Vergleich des Lebens der Superreichen ökonomisch ausgestattet sein mag, behalten und es eben so gut führen, wie es geht. Und der Lebensstandard der Arbeiter:innen hat sich eben drastisch verändert in sehr vielen Teilen der Welt. Wie Adorno einmal sagte: „Die Proletarier haben mehr zu verlieren als ihre Ketten“, weil es eben doch so ist, dass der ganze weltweite Wohlstand nach unten durchgeschlagen hat.
Das Proletariat muss also nicht mehr aus persönlicher Notwendigkeit eine Revolution machen, wie das noch zu Marx Zeiten gewesen sein mag. Und wenn Du dann am Ende des Abschnittes sagst, dass Du da gerne auf die „Ironie hinweisen“ möchtest, die darin besteht, dass „diejenigen `kritischen’ Antifas, die Leninisten ein „elitistisches Modell“ vorwerfen, ja gerade diejenigen sind, die „gegen alle Beweise behaupten, durchschnittliche ArbeiterInnen sind dank einer weiter nicht erläuterten Verdinglichung unfähig, ihre Lage zu verstehen“, dann muss man dieses Kompliment einfach mal zurückgeben; Die Arbeiter:innen verstehen ihre Lage wohl schon ganz gut, sie ist nämlich so weit in Ordnung, dass es keinen Sinn macht, das eigene Leben dem Kampf für eine bessere Ordnung zu widmen. Wer diese Lage nicht versteht, das bist Du selber und überhaupt alle, die die ganze Zeit über das Proletariat schwadronieren, als sei das so eine Art revolutionärer Verfügungsmasse, der man nur mal ordentlich die tatsächliche Lage, in der sie sich befindet, klarmachen müsste, und dann würde sie schon heroisch zu den Waffen greifen. Wenn, dann müsste man ja schon so ehrlich sein und sagen: „Deine Lage, Prolet, die mag ja ganz in Ordnung sein, aber dir kommt nun mal die welthistorische Aufgabe zu, die Welt zu verbessern, also drück dich nicht darum, lass Haus und Hof hinter dir und schreite voran zur Revolution.“ Und da sieht man eben, dass hier die Wirklichkeit den modernen Heldenfilmen nachgebogen wird, wo dann der arme Herr Frodo das primitive Auenland verlassen muss, um dann den Ring in die Schicksalskluft zu werfen.
8. Das Konzept der Avantgarde
Wieso macht der Frodo das eigentlich? Weil andere ihm sagen, er muss es tun. Und so lautet das bei JB: „Weil unter den Bedingungen der Lohnsklaverei nicht alle ArbeiterInnen gleichzeitig klassenbewusst werden können, bildet sich notwendigerweise eine Schicht der am weitesten fortschrittlichen ArbeiterInnen“, zu der man praktischer und überraschenderweise selbst gehört. „Diese bleibt vor einer revolutionären Situation immer eine Minderheit, während die überwiegende Mehrheit ideologisch der Bourgeoisie folgt.“ Das liegt unter anderem daran, „dass ein Verständnis der bürgerlichen Gesellschaft nur mit genügend empirischem und philosophischem Wissen möglich ist“, und „[u]m nun nicht in der Vereinzelung unterzugehen, Erfahrungen zu kollektivieren und handlungsfähig zu sein, ist es notwendig, dass sich Teile der Avantgarde organisatorisch zusammenschließen. Für diese organisatorische Einheit, die gewissen Anforderungen gerecht werden muss, hat sich der Begriff Partei, bzw. Partei neuen Typs durchgesetzt.“
Wir finden hier eine knappe Zusammenfassung der Position, die so schon 1902 von Lenin in seinem Aufsatz „Was tun?“ formuliert wurde: Die Bedingungen machten es notwendig, dass es eine zentralisierte, straff und nicht demokratisch organisierte Partei geben sollte, die dann die Leitlinien für die Berufsrevolutionäre herausgibt, die diese dann befolgen. Lenin spricht sich explizit gegen spontane Bewegungen aus, gegen ungeplante Aktionen usw., weil diese nicht die Durchschlagskraft entfalten würden, die sie aber bräuchten, um die Revolution herbeizuführen. Hierfür hat Lenin sehr gute Gründe: er kommt nicht einfach darauf, weil er einen Hang zur Autorität hat oder Ähnliches, sondern weil er die konkreten Bedingungen in Russland sowie die Erfahrungen vor Augen hat, dass isolierte Aktionen tatsächlich keine wesentliche Durchschlagskraft entfalten konnten. Eine Avantgarde ist für ihn unumgänglich, weil es aber auch die Revolution ist; die Bedingungen der russischen Arbeiter waren kläglich und eine Verbesserung dieser Bedingungen war unumgänglich. Sie befanden sich vielmehr noch als das Proletariat in den westlichen Nationen in der Situation, wie Marx sie vorfand und analysierte. Demgegenüber hatten sich in den westlichen Ländern bereits Verbesserungen durchgesetzt, wie etwa in der Dauer des Arbeitstags, der Krankenversorgung, des Arbeitsschutzes usw. Die „westliche“ Sozialdemokratie rückte demenstprechend immer weiter ab von revolutionären Forderungen, und das Problem in Russland war, dass ein Teil der russischen Sozialdemokratie begann, sich an den westlichen Entwicklungen zu orientieren, also darauf zu hoffen, dass Verbesserungen sich im Rahmen des in der Gesellschaft liegenden Veränderungspotenzials klären ließen. Lenin sah hier die ja völlig gerechtfertigte Gefahr, dass dadurch das revolutionäre Potential eingeschränkt werden könnte, aber eine Revolution und die Überwindung des Kapitalismus blieben in seinen Augen unumgänglich, um endlich einen menschenwürdigen Zustand herbeizuführen. Die Idee einer zentralistisch organisierten Avantgarde, die den Gedanken der Revolution festhielt, mit all den damit zusammenhängenden Notwendigkeiten zur Konspiration usw., entstand in einem politisch feindlichen Klima, wo es darum ging, sich nicht mit Krümeln abspeisen zu lassen und einer Entwicklung Vorschub zu leisten, in welcher sich die Klassenherrschaft der Bourgeoisie immer weiter festigen würde.
Was demgegenüber Lenin zum Vorwurf gemacht werden muss, ist, dass er sich die Probleme, die mit einer solchen Organisation zusammenhingen, nicht ausreichend vor Augen geführt hat. Seine Dialektik reichte nur so weit, die Widersprüche in dem zu erkennen, was er bekämpfen wollte, aber nicht so weit, dass er sich den in der eigenen Theorie liegenden Widersprüchen gestellt hat, bzw. diese – ähnlich wie das JB tut – einfach damit beiseite wischte, dass ja das Ziel dieser Zentralisierung gerade die Abschaffung der Zentralisierung sei, dass ja die Arbeiter ohne eine solche Zentralisierung sowieso ebenfalls von einer Zentralisierung der Macht betroffen seien, eben durch die Zentralisierung der Macht in den Händen der Bourgeoisie. Dies ist aber nicht ausreichend. Eine ernsthafte Auseinandersetzung darf sich gerade nicht blind machen vor den in der Sache liegenden gefährlichen Tendenzen, bzw. diese einfach als Nebensache abtun. Es ist demgegenüber gewissermaßen sogar die Hauptsache. Was daraus geworden ist, das kann sich ja jeder anschauen. Um es auch hier nochmal in aller Deutlichkeit zu sagen: Kein Proletarier hat ein Interesse daran, sein Leben zu verlieren. Wenn er unter Bedingungen lebt, unter denen er oder jemand wie er aber anhaltend mit dem Tode bedroht ist, da muss er sich dagegen wehren und Bedingungen herbeiführen, die sein Leben bewahren können. Es ist daher verständlich, dass im zaristischen Russland, wo die Arbeitsbedingungen kaum dafür reichten, zu überleben, eine Revolution unabdingbar war, sich dann durch den 1. Weltkrieg jene revolutionäre Situation ergab, wo das Proletariat in unglaublicher Anzahl immer weiter an die Front transportiert wurde, um sich da totschießen zu lassen. Und dass sie diesen Kampf, gegen den Zaren, den Adel und überhaupt die ganze Bourgeoisie bis auf Messer führen mussten, weil ihr Tod sowieso drohte, und zwar in einer ganz und gar sinnlosen Weise; In der Revolution konnten sie sich aber für etwas einsetzen, was ganz und gar in ihrem Sinne war.
Was aber dann kam, das hörte ja schon in kürzester Zeit auf, in Ihrem Sinne zu sein. Weil was kam, war ein gesellschaftliches Verhältnis, in dem sich die für die Revolution notwendige zentralisierte Organisiation begann, sich nicht aufzuheben, sondern sich zu verfestigen zu einer gesellschaftlichen Ordnung, die erneut das Leben der Proletarier bedrohte. Millionen von Proletariern sind in dieser Gesellschaftsordnung durch diese Ordnung umgebracht worden – das Versprechen nach einem erträglichen Leben hat sich für Millionen von Menschen nicht umgesetzt. Zugleich verfestigte sich auch in zahlreichen Gebieten das soziale Elend und es reichte weiter nicht zu mehr als zur Reproduktion der Arbeitskraft. Dies ist aber keine einfach nur schlecht gelaufene Entwicklung, oder etwas, was im Grunde nur eine vom bourgeoisen Feind herbeigeführte Not war, sondern man muss auch erkennen, dass und wie es aus den Bedingungen heraus resultierte, die für die russische Revolution ihre Notwendigkeit gehabt haben mögen. Wer das alles aber abtut, der muss ja dann eingestehen, dass ihm das Leben des einzelnen Proleten ganz und gar gleichgültig ist; Wer dies aber eingesteht, der sollte damit dann auch ehrlich sein und nicht behaupten, bei dieser Idee von der Kommunistischen Partei usw. würde es noch um das Wohl des Einzelnen gehen. Im Übrigen noch eines dazu: Wenn man eine Theorie nicht mehr nach ihren Widersprüchen hin untersucht, dann hört sie auf kritisch zu sein, dann wird sie zur Ideologie. Und genau das ist es, was der Leninismus ist, eine Ideologie, die sich gegen ihre eigenen Widersprüche versperrt und abdichtet, und diejenigen, die diese ansprechen, immer einfach als Klassenfeinde oder -verräter verunglimpft. Da hilft es auch nicht, wenn man einfach feststellt: „Ein Auseinanderklaffen von informierter Führung und unwissender Basis ist somit durch die Praxis unmöglich“ oder „auf diese Weise ist die Verwirklichung der Kritik in der Partei angelegt und hört auf, ein rein nachträglicher Akt zu sein“.
Der Satz „Hat die Partei aufgehört, Wahrheit als Resultat eines dialektischen Prozesses anzusehen, verliert sie ihr Bewusstsein und ihr revolutionäres Potential“, ist der Zustand, der eben eingetreten ist und der aber aufgrund der eigenen ideologischen Verblendung nicht gesehen werden kann. Diese Verblendung äußert sich dann insbesondere darin, dass der Unterschied zwischen der Situation 1902, als Lenin seine Schrift „Was tun?“ verfasste, und der Situation heute eklatant ist, aber von JB gar nicht antizipiert werden kann. Deswegen wehrt sie sich auch ständig gegen den Vorwurf des Ökonomismus, gegen den sich Lenin in seiner Schrift in Stellung bringt – eine Auseinandersetzung, die heute ja kaum mehr eine Rolle spielt. Aber Aktuelles wird eben nicht mehr erkannt. Es wird alles so ausgedeutet, dass die Schrift von Lenin zu einer aktuell bedeutenden Schrift wird. Es wird sich mit Lenin und seiner Gefolgschaft identifiziert, anstatt sich mit sich selbst zu identifizieren. Eine Identifikation mit Lenin aber ist quasi der absolute Beweis dafür, dass es kein entfaltetes Klassenbewusstsein oder ein Bewusstsein von irgendwas, überhaupt bei einem selbst gibt, und drückt auch die krasse Wirklichkeitsferne aus, die den Marxisten-Leninisten immer auf dem Fuße folgt. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass zwar gefordert wird, den Leninismus auf die Höhe der Zeit zu heben, aber dies ja gar nicht erfolgt. Es wird ja eben geradezu vollkommen ignoriert, wie sehr sich der Lebensstandard verbessert hat. Stattdessen wird immer versucht, so zu tun, als würde sich der Lebensstandard ständig verschlechtern. Marxisten-Leninisten gieren geradezu nach Elendsentwicklungen. Dabei ist der Lebensstandard eines Proletariers in den Industrienationen in der Regel sogar zu hoch, als dass er als Vorbild für alle Menschen auf der Welt taugen würde, wenn wir mal den Blick auf das Heute lenken. Nahezu alle Menschen in den Industrienationen werden ihren aktuellen Lebensstandard senken müssen, wenn es allen Menschen auf der Welt gleich gut gehen und zugleich der Planet nicht verödet werden soll. Gerade diese Beschränkung, die auf alle zukommt (viel weniger Fleisch, viel weniger Autos, viel weniger technischen Firlefanz, usw.), ist es ja, was die Menschen scharenweise in die Hände von Menschen wie Trump und AfD laufen lässt, weil dieser gerade verspricht, dass dieser Standard erhalten bleibt, weil man die Hungerbäuche schön dahält, wo sie verhungern.
9. Abschließende Bemerkungen unsererseits
Wir haben gar kein Interesse an einer Art Generalabrechnung mit dem Marxismus-Leninismus, weswegen wir auch darauf hier nicht in aller Tiefe eingegangen sind. Der Marxismus-Leninismus ist zwar eine besondere Form moderner Verwirrung, aber eben doch nicht so besonders, dass er allzu sehr aufs Gemüt schlägt; In seiner gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit lässt er sich in der Regel einfach ignorieren. Aber dann eben doch wieder nicht, weil es gerade diese Bedeutungslosigkeit ist, die die Marxisten-Leninisten neuen Typs dazu treibt, sich an die zu wenden, die genauso bedeutungslos geworden sind wie sie selbst: die radikale Linke. Hier zumindest werden sie hin und wieder ernst genommen und gerade in schwierigen Zeiten sind auch hier die Menschen anfällig für Ideologien, die ihnen dann Orientierung versprechen, ohne dieses Versprechen dann freilich einlösen zu können. Und dieser Bezug auf die radikale Linke und das sich hier wichtig machen wollen, ist dabei, im Osten eine regelrechte Plage zu werden. Die Auseinandersetzungen aktuell insbesondere in Leipzig machen dies deutlich; In ohnehin schon schweren Zeiten wird einem von Marxisten-Leninisten noch eine zusätzliche Auseinandersetzung aufgedrängt. Ihr Auftreten ähnelt dabei dem Auftreten aller politischen Plagegeister: ständig das Maul aufreißen, die Erfolge und Leistungen anderer für sich reklamieren, die Geschichte verdrehen, die Auseinandersetzung brutalisieren, Grenzen überschreiten und sich dann als Opfer inszenieren. Dies muss auch so gemacht werden, weil man sonst ignoriert wird, soll heißen: Um im Konkurrenzkampf um die politische Deutungshoheit einen Stich zu machen, muss man sich, gerade da, wo die feindliche Struktur stark ist, aggressiv und rücksichtslos behaupten. Gerade in dieser Auseinandersetzung kommt das Gefühl von Bedeutung und Lebendigkeit. Der Widerstand derer, die da angegriffen und verdrängt werden sollen, stachelt einen nur noch mehr an, weil es sich umso bedeutsamer anfühlt, je mehr Widerstand einem entgegensteht. Leider ist das Ignorieren auch keine Option, weil auch das Schwinden des Widerstandes als Erfolg gedeutet wird. Zur Ideologie gehört auch immer ein gewisser Wahn dazu, und dieser findet seine Nahrung wesentlich darin, dass alles, was passiert, mit einer auf einen selbst bezogenen Bedeutung aufgeladen wird. Diese Bedeutung kommt zwar aus dem eigenen Selbst, wird aber auf die umgebende Welt projiziert und wirkt so wie etwas Äußerliches und dient immer der Bestätigung der eigenen Ideologie. Alles scheint diese nur zu bestätigen. Demgegenüber sollte vor allem die eigene Beschäftigung mit der Welt vorangetrieben werden, um der begriffslosen Verzauberung der Welt, die allerorten stattfindet, eine kritische Theorie und Praxis entgegensetzen zu können.
kopiert von https://de.indymedia.org/node/471617
[Anmerkung kontrapolis: Zur Einordnung. Einen weiteren Text dieser Gruppe „[Antifa-Debatte] Fröhlich in den Untergang – Antwort auf Josèphine Babeufs Verteidigung des Aufrufs „Zeit zu handeln“ findet ihr hier. Zum besseren Verständnis haben wir hier die Links im Nachhinein raus gesucht, freuen uns aber sehr, wenn das die Menschen machen, die Texte von Indymedia kopieren.]
passiert am 14.11.2024