Die zwei Gesichter des Stefan K.

Ein Berliner Polizist sollte Flüchtlingshelfer vor Neonazis beschützen. Nun scheint es, als habe er in seiner Freizeit einen Asylbewerber krankenhausreif geschlagen.

Wenn es stimmt, was Zeugen sagen, dann hat der Polizist Stefan K. einen Asylbewerber verprügelt. Hat ihm die Nase gebrochen. Und so hart zugeschlagen, dass sein Opfer sich übergeben musste und blutend zu Boden sank.

Es ist der 5. April 2017, ein Sonntagabend im Osten von Berlin. In der Alten Försterei, einem Fußballstadion, hat kurz zuvor der FC Union Berlin gegen Erzgebirge Aue verloren. Nicht weit vom Stadion entfernt, am S-Bahnhof Karlshorst, auf einer Treppe, die vom Bahnsteig zu einer viel befahrenen Straße führt, rempeln ein paar betrunkene Fußballfans einen jungen Mann aus Afghanistan. Sie pöbeln ihn an: Scheißausländer! Verpiss dich aus Deutschland! Sie verfolgen ihn die Treppe hinunter, auf der Straße kommen weitere Fußballfans hinzu. Sie treten und schlagen den jungen Mann. Seine Jacke ist zerrissen, sein Gesicht voll Blut.

So werden es Zeugen später vor Gericht erzählen. Ihre Aussagen, festgehalten im Protokoll eines Prozessbeobachters, liegen der ZEIT vor.

Mittendrin in der Schlägerei: Stefan K., damals 36 Jahre alt, von Beruf Polizeioberkommissar. K. ist an diesem Abend nicht dienstlich, sondern privat unterwegs. Ohne Uniform, dafür laut der Anklageschrift mit einem Blutalkoholwert von 2,1 Promille.

Stefan K. habe den jungen Afghanen „halb kaputt geschlagen“, sagt ein Zeuge. Ähnliche Gewaltausbrüche habe er zuvor „nur im Film gesehen“. Eine andere Zeugin, die zum Zeitpunkt der Tat schwanger ist, gibt an, sie habe den Angriff als derart brutal empfunden, dass sie einen Schock und daraufhin eine Fehlgeburt erlitten habe.

Als die Polizei am Tatort eintrifft, gibt sich Stefan K. vor einer Streifenbeamtin als Kollege zu erkennen. Er sei an der Schlägerei nicht beteiligt gewesen, sondern habe lediglich „schlichten“ wollen, sagt er. Außerdem versucht er offenbar, die Sache herunterzuspielen, weil das Opfer kein Deutscher ist: Es seien „keine deutschen Interessen betroffen“. So steht es in der Zeugenaussage der Streifenpolizistin.

Man würde Stefan K. gern mit den Schilderungen der Zeugen konfrontieren. Doch er hat sich bislang nicht öffentlich zu dem Fall geäußert. Auch für die ZEIT ist er nicht erreichbar. Anfragen an seinen Anwalt und seine Familie blieben unbeantwortet.

Das Amtsgericht Berlin-Tiergarten hat mittlerweile ein Strafverfahren gegen K. und zwei weitere mutmaßliche Täter eröffnet. Der Vorwurf: gefährliche Körperverletzung. Als Tatmotiv hatte die Berliner Polizei bereits kurz nach dem Übergriff einen „fremdenfeindlichen Hintergrund“ vermutet. Allen Beteiligten ist klar: Sollte der Oberkommissar Stefan K. schuldig gesprochen werden, hätte die Polizei einen neuen Skandal am Hals.

In den vergangenen drei Jahren standen laut dem Bundesamt für Verfassungsschutz bundesweit etwa 380 Sicherheitsbeamte offiziell unter Rechtsextremismus-Verdacht; in Berlin sind es derzeit 53. Sie sollen unter anderem Nazi-Symbole getragen oder antisemitische Inhalte verbreitet haben. Anfang Oktober flog eine Chatgruppe auf, in der sich 26 Berliner Polizisten jahrelang Nachrichten schickten. Sie verglichen

Flüchtlinge mit Ratten und Vergewaltigern, bezeichneten Muslime als „fanatische Primatenkultur“ und teilten Hakenkreuzbilder. „Wir haben Kolleginnen und Kollegen mit rechtsextremistischem Gedankengut in unseren Reihen“, sagte Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik Anfang November in der Zeitung Die Welt. „Das ist leider so.“ Gegen rund 40 von ihnen seien Disziplinarverfahren eingeleitet worden. So wie gegen Stefan K.

Der Fall Stefan K. ist also einer von vielen. Und doch sticht er hervor. Nicht nur wegen seiner mutmaßlichen Brutalität, sondern auch, weil es bis zur Urteilsverkündung lange dauern könnte: Der Gerichtsprozess gegen K. wurde wegen der Corona-Pandemie auf das nächste Jahr verschoben und muss wegen der langen Unterbrechung komplett neu aufgerollt werden. Das Disziplinarverfahren der Polizei wiederum ist wegen des Prozesses ausgesetzt. Es wird erst fortgeführt, wenn ein Urteil vorliegt. Und so ist Stefan K. nach wie vor im Dienst, als Streifenpolizist. Sein mutmaßliches Opfer hingegen ist ein gebrochener Mann. Er sagt: „Der Abend in Karlshorst hat mein Leben zerstört.“

„Die haben mit ihm zusammengestanden und eine geraucht“

Jamal Amadi*, geboren in Afghanistan, ist zum Zeitpunkt der Tat 26 Jahre alt und Asylbewerber. Er lebt damals in einem Flüchtlingsheim in Berlin- Kreuzberg und absolviert einen Bundesfreiwilligendienst. Er arbeitet in einem Kinderladen und bei der Lebenshilfe, unterstützt die Erzieherinnen, kümmert sich um Menschen mit Down-Syndrom.

„Er ist mit guten Absichten nach Deutschland gekommen“, sagt Sandra Schönlebe, eine von Amadis Kolleginnen. Er sei ein hilfsbereiter Typ gewesen, „freundlich und fast ein bisschen naiv“. Andere Kollegen und Freunde erzählen, er habe Deutsch gelernt und in seiner Freizeit fotografiert und gezeichnet. Er habe Pädagoge oder Künstler werden wollen.

Am Tatabend, erzählt Amadi, sei er auf dem Weg zu einem Freund gewesen. Dann aber trifft er auf seine Angreifer. Hämatome, Prellungen, Verdacht auf Nasenbeinfraktur – so steht es im Bericht der Ärzte, die Amadi an jenem Abend in einem nahe gelegenen Krankenhaus behandeln. Was in dem Bericht nicht steht: Wie sehr die Tat ihm psychisch zusetzt.

Glaubt man Amadis Freunden und Kollegen, dann hat er sich nach der Tat verwandelt. Von einem zugewandten Freund in einen zutiefst misstrauischen Mann. Er habe sich verfolgt gefühlt, vor allem von deutschen Polizisten, und eine fast wahnhafte Angst vor Menschen in Uniform entwickelt. Amadi selbst sagt, es habe dazu allen Grund gegeben: Die Streifenpolizisten, die damals zum S-Bahnhof Karlshorst gerufen worden waren, hätten Stefan K. nicht wie einen Tatverdächtigen behandelt, sondern wie einen Kumpel. „Die haben mit ihm zusammengestanden und eine geraucht.“

In der Zeugenaussage der Beamten steht dazu nichts. Ein Sprecher der Berliner Polizei sagt, man nehme die Sache „sehr ernst“, könne aber mit Rücksicht auf das laufende Verfahren keine Details mitteilen. Jamal Amadi sagt: „Das hat mich am traurigsten gemacht: dass der Mann, der mich verprügelt hat, mit den Polizisten zusammenstand.“

»Immer, wenn ich in den Spiegel schaue, werde ich an ihn erinnert.«
— Jamal Amadi, Opfer des mutmaßlichen Schlägers und Polizeibeamten Stefan K.

Kurz nach der Tat erhält Amadi einen Brief, der mit dem Übergriff nichts zu tun hat, ihm aber vorkommt wie ein zweiter Schlag der deutschen Behörden: Sein Asylantrag wird abgelehnt. Amadis Freunde wollen einen Anwalt organisieren, um den Bescheid anzufechten. Die Chancen stehen gut; damals werden zahlreiche Asylentscheidungen von den Gerichten kassiert. Amadi aber reicht keinen Widerspruch ein. Er verlässt das Land. „Ich hatte Angst, dass ich in Deutschland getötet werde“, erzählt er. Er flüchtet zu Verwandten nach England. Eine gute Nachricht für Stefan K.: Da der Hauptbelastungszeuge nun außer Landes ist, verfolgt die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen ihn nicht weiter.

2019 kehrt Jamal Amadi nach Deutschland zurück. In England war er von den Behörden aufgegriffen, in Abschiebehaft gesteckt und zur Ausreise aufgefordert worden. Gemäß der Dublin-Verordnung ist die Bundesrepublik für seinen Fall zuständig. Doch Amadi, der abgelehnte Asylbewerber, hat in Deutschland keinen Anspruch mehr auf einen Platz im Flüchtlingsheim. Er ist offiziell ausreisepflichtig, ein Abschiebekandidat. „Ohne festen Wohnsitz“ steht fortan in seinen Akten. Amadi kommt in ein Obdachlosenheim am Rande der Stadt. Er hält es dort nicht lange aus. Er baut sich ein Zelt aus Plastikplanen, im Görlitzer Park, nicht weit von dem Flüchtlingsheim entfernt, in dem er früher wohnte.

Der Görlitzer Park ist ein berüchtigter Drogenumschlagplatz. Amadi, dessen Freunde sagen, er habe früher nie Probleme mit Alkohol und anderen Substanzen gehabt, konsumiert nun harte Drogen. Mehrmals lässt er sich freiwillig ins Krankenhaus einweisen. Man verabreicht ihm Diazepam, ein angstlösendes Mittel.

Im Park wird Amadi von Polizisten kontrolliert. Er schlägt um sich, spuckt, schreit: „Ich bring euch alle um! Ich ficke die Polizei!“ So steht es in einer Strafanzeige gegen ihn. Die Polizisten sagen, Amadi habe sie angegriffen. Amadi hingegen behauptet, die Beamten hätten zuerst zugeschlagen. Er wird festgenommen. Ein Psychiater erklärt ihn für schuldunfähig, das Gutachten liegt der ZEIT vor. Schließlich landet er im Maßregelvollzug Reinickendorf, in Berlins Psychiatrie-Gefängnis.

Auf Fotos, die vor dem Angriff auf ihn entstanden, ist Amadi ein gepflegter junger Mann. Auf späteren Aufnahmen wirkt es, als sei er um Jahre gealtert. Seine Wangen sind eingefallen, mehrere Zähne fehlen. In einem Untersuchungsbericht der Ärzte steht, Amadi sei „unterernährt“. In einer Polizeiakte wird er als „verwahrlost“ beschrieben.

Kein normaler Polizist

Unterdessen nimmt die Staatsanwaltschaft Berlin die Ermittlungen gegen Stefan K. wieder auf. Doch das Strafverfahren, das darauf folgt, wird wegen der Pandemie unterbrochen, und bevor es fortgeführt werden kann, wird Amadi abgeschoben. Seine Anwältin hält das für rechtswidrig: weil er zu dem Zeitpunkt in ärztlicher Behandlung war. Weil er für das Verfahren gegen Stefan K. „zwingend benötigt wird“, so formuliert es auch die Staatsanwaltschaft. Und weil es in Berlin ein Gesetz gibt, das Opfern rassistischer Gewalt ein Bleiberecht einräumt. Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD), der die Abschiebung persönlich absegnet, erklärt später, er habe von dem rassistischen Übergriff gegen Amadi nichts gewusst. Für ihn sei er ein abgelehnter Asylbewerber gewesen, der Drogen konsumierte und als gefährlich galt.

Im Februar 2020 wird Amadi in ein Flugzeug nach Kabul gesetzt. Dort lebt er nun bei Verwandten. Man kann ihn über WhatsApp anrufen, er steht dann am Fenster, wo die Verbindung stabiler ist, man kann die Autos auf Kabuls Straßen hupen hören. Amadis Stimme klingt schwach. Er sagt, der drogenabhängige Mann von damals, das sei nicht er gewesen.

Das ist Amadis Geschichte. Und die von Stefan K.?

K., das macht diesen Fall besonders heikel, war kein normaler Polizist. Er war bis 2016 Teil einer Sondereinheit der Berliner Polizei, der Ermittlungsgruppe Rechtsextremismus, kurz: EG Rex. Diese Einheit sollte eine Serie rechtsextremer Brandanschläge im Süden Berlins aufklären, wo es eine berüchtigte Neonazi-Szene gibt. Zu Stefan K.s Aufgaben zählte es, die Aufmärsche der Neonazis zu beobachten. Außerdem sollte er Kontakt zu den Opfern halten, zu linken Politikern und Flüchtlingshelfern, deren Autos angezündet worden und die ins Visier der Neonazis geraten waren.

An Stefan K. wandten sie sich, wenn ihnen etwas verdächtig vorkam. Er war das Scharnier zwischen denen, die von den Anschlägen getroffen wurden, und denen, die die Anschläge aufklären sollten, ein Bindeglied zwischen Opfern und Staat. Was damals niemand ahnt: dass K. später selbst mutmaßlich zu einem Gewalttäter wird.

Bis heute hat die Berliner Polizei die Brandanschläge nicht aufgeklärt. Es besteht der Verdacht, dass die Neonazis, die dahinterstecken sollen, von Polizisten gewarnt worden sind. Der Beamte Stefan K. ist Teil eines riesigen Behördenskandals, der die Aufklärung der Anschläge seit Jahren lähmt. Und sein Fall wird noch verworrener: Denn Stefan K. wurde offenbar selbst von Neonazis attackiert.

Vor ein paar Jahren findet im Süden Berlins eine Razzia statt, in der Wohnung eines bekannten Neonazis, den die Ermittler für den Drahtzieher hinter den Brandanschlägen halten. Die Polizisten finden: mehrere Handys, einen Laptop, Werbematerial der Nazi-Partei „III. Weg“, eine Machete. Und eine Festplatte. Auf der Festplatte sind die Namen mehrerer Berliner Polizisten gespeichert, die Neonazis überwachen. Auch der Name von Stefan K. Dazu seine Adresse, seine Kontoverbindung – und ein Foto. Es stammt aus dem Jahr 2013, zeigt Stefan K.s Lebensgefährtin und seine Tochter. Es scheint heimlich aufgenommen worden zu sein. Die Neonazis observieren also ihrerseits die Polizei.

2015 geht in der Straße, in der Stefan K. mit seiner Familie lebt, ein Škoda in Flammen auf. Es ist das Auto von Stefan K. Den Ermittlern sagt er damals, der Anschlag sei vermutlich eine Rache-Aktion der Rechtsextremen.

Ist der Polizist Stefan K. also beides? Ein Opfer der Neonazis – und zugleich ein rassistisch motivierter Gewalttäter? Spricht man mit erfahrenen Polizisten, sagen sie, ein solcher Fall sei zwar äußerst ungewöhnlich, aber nicht ausgeschlossen. Es gebe Polizisten, die Mörder jagen – und irgendwann ihre Frau umbringen. Und womöglich gebe es auch Beamte, die im Dienst Neonazis verfolgen – und in ihrer Freizeit Asylbewerber verprügeln.

Jamal Amadi sagt, Stefan K. habe ihm ein Andenken hinterlassen: „Immer, wenn ich in den Spiegel schaue, werde ich an ihn erinnert.“ Früher habe Amadi eine hübsche Nase gehabt. Heute sei sie schief.

Stefan K. fährt bis heute Streife, in einem Wohnviertel im Süden von Berlin.

* Name von der Redaktion geändert

Quelle: https://www.zeit.de/2020/48/berliner-polizist-asylbewerber-rechtsextremismus-ermittlung/komplettansicht

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passiert am 18.11.2020