Exotische Materie – Vom sozialen zum politischen Antagonismus [Part II]

“In den ersten Monaten des Jahres 1978 und nach dem tragischen Ende von Aldo Moro ist ein ständiges Anwachsen der bewaffneten Gruppen und bewaffneten Aktionen zu verzeichnen. In die größten Formationen strömen hunderte von Militanten aus der autonomia diffusa und ganze Sektionen von Fabrikavantgarden, exemplarisch in dieser Beziehung ist die Geschichte der Brigade Walter Alasia in Mailand, deren Mitglieder zu großen Teil Jugendarbeiter waren.”… “In der ‘Resolution der strategischen Leitung’ vom April 1975 hatten die BR endgültig die Form des Selbstinterviews aufgegeben um sich mit einem offiziellen Dokument darzustellen, das danach strebte eine Art Generalprogramm in der Tradition der historischen Parteien der Dritten internationale zu sein. Schon diese Entscheidung, scheinbar formal, war bezeichnend für die Setzung der bewaffneten Organisation als hegemoniales Element in der Komplexität des aktuellen revolutionären Prozesses. Also nicht mehr eine bewaffnete illegale Gruppe als Bezugspunkt der radikalsten Erfahrung in der Klassenkonfrontation, sondern eine wirkliche Organisation, die, indem sie den ‘bewaffneten Kampf’ als einzige strategische Linie der Klassenkonfrontation, als ‘die Form’ der Revolution setzte, dazu tendierte, in ihrem Innern alle von der Komplexität der realen Bewegung produzierten Erfahrungen umzuinterpretieren. Eine strategische Entscheidung dieser Art konnte nichts anderes als eine drastische Reduktion der Komplexität und des Reichtums der organisatorischen Erfahrung bewirken und damit eine fortschreitende Gegenposition zu anderen Kampferfahrung provozieren, nicht nur in den Resten der außerparlamentarischen Gruppen, sondern auch in der diffusen und organisierten Autonomia.”
Die goldene Horde – Primo Moroni und Nanni Balestrini
Einer der Treppenwitze der Geschichte des militanten Antagonismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Westeuropa ist, dass die Rote Armee Fraktion, die sich zu jeder Phase ihres Bestehens aus nicht (wesentlich) mehr als ein, zwei Dutzend Genossen und Genossinnen zusammensetzte, erst Mitte der 90er in jene existentielle Krise geriet, die schließlich 1998 zu ihrer Selbstauflösung führte, während die Roten Brigaden (BR), die zu ihren Hochzeiten tausende Militante und Unterstützer zählten, schon 1980 die ersten Spaltungen erlebten, als sich die Mailänder Kolonne Walter Alasia von den BR lossagte, um zu ihren “operaistischen Wurzeln” zurückzukehren. Jene Überreste der BR (die Ende der 70er, Anfang der 80er aberhunderte von inhaftierten Militanten und ‘Abtrünnige’ und ‘Abschwörer’ zu verkraften hatten), die als BR-PCC (Kämpfende Kommunistische Partei) zusammen mit der RAF und der Action Directe (AD) die “westeuropäische Front” aufbauen wollten, hatte zu diesem Zeitpunkt Anfang der 80er schon praktisch jeglichen Rückhalt in den Fabriken des italienischen Nordens verloren und auch ihr Rückhalt in den Überresten “der Bewegung”, die an ihrem Höhepunkt über 100.000 Militante mobilisieren konnte, und die ebenso von der Repressionswelle gebeutelt war, war nur noch marginal. Folgerichtig erklärt die “historische Führung” der BR 1987 den bewaffneten Kampf für beendet, auch wenn verschiedenste Splittergruppen unter wechselnden Namen weiterexistieren und bis Anfang des 21. Jahrhunderts Aktionen durchführten.
In der sozialen und politischen Verankerung so extrem unterschiedlich, gleicht sich die Geschichte der RAF und der BR jedoch an verschiedenen Punkten, für diese Zeilen bedeutend soll die von Primo Moroni und Nanni Balestrini herausgestellte Umorientierung der BR Mitte der 70er sein, die “den bewaffneten” Kampf als “zentral” in der Klassenkonfrontation setzte, alle anderen Kampfabschnitte als nebenrangig betrachtete, eine Hybris, die sich auch durch das sogenannte “Front-Papier” der RAF von 1982 und die darauf gründende Aktionslinie der folgenden 10 Jahre zieht und auf die auch Burkhard Garweg in seinem im Neuen Deutschland veröffentlichten Text eingeht. Im Kern scheinen hier die gleichen sich aus einem Subjektivismus speisenden kapitalen Fehleinschätzungen zugrunde zu liegen und doch liegen die Dinge aus meiner Sicht etwas anders. Burkhard Garweg merkt in seinem Text an: “Eine auch sozialrevolutionäre und nicht nur antiimperialistische Stadtguerilla hätte vielleicht die Chance gehabt, die unabhängig von der RAF Ende der 70er und in den 80er Jahren entstandenen Bewegungen, die zum Teil auch militant waren: die Häuserkampfbewegung, die Anti-AKW-Bewegung, die Anti-Nato-Bewegung, die feministische Bewegung und die Solidaritätsbewegungen mit den Befreiungsbewegungen des Trikont in einer sozialrevolutionären und antiimperialistischen Fundamentalopposition zusammenzufassen.”
Aus meiner Sicht unterliegt Burkhard Garweg hier einem entscheidenden Irrtum, denn woher hätte denn diese “sozialrevolutionäre” Orientierung kommen sollen, in dem historischen Kontinuum, im dem sich die RAF bewegte und das ihre innere, “historische” Logik repräsentierte, war nur ein “Bündnisangebot” an “die Bewegung” möglich, so wie es in dem “Frontpapier” von 1982 gemacht wurde (und selbstverständlich mit dem Anspruch einer “Führungsrolle” der bewaffneten Gruppe). Geschichte funktioniert nie als ein rückwärts gewandter Prozeß, so wie sich die Entwicklung oder auch “der Sprung” hinein in die “Bewaffnete Konfrontation” immer in konkreten historischen Bedingungen realisiert, so ist es nicht möglich “Geschichte zurückzunehmen”, deshalb strömten Hunderte in Italien aus der Autonomia in die bewaffneten Gruppen, auch zu den ideologisch eher fernen BR, aber es ist eben nicht möglich diesen Prozess zurückzudrehen, es gibt nur das (Eingeständnis des) Scheitern und die Suche nach neuen Wegen unter veränderten Bedingungen. Und deshalb war auch der Versuch der Mailänder Kolonne Walter Alasia der BR, “zu den operaistischen Wurzeln” zurückzukehren, von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Und gegen den auch noch heutzutage von Teilen der ehemaligen Autonomia erhobenen Vorwurf, die BR hätten mit ihrer “Zuspitzung” in Form der Entführung und Liquidierung von Aldo Moro eben jene Repression heraufbeschworen, deren “Opfer” dann auch die Strukturen der Autonomia wurden, sei angemerkt, dass dieser Vorwurf simplifizierend und ahistorisch ist (was nicht impliziert, dass es nicht berechtigte Kritik an den strategischen Entscheidungen der BR zu üben gilt), weil die Repression nicht der eigentliche Grund für das Ende des Aufbruchs in Italien (Mitte bis Ende der 70er) war, sondern die Ursache sich in der mangelnden politischen, sozialen und organisatorischen Perspektive auf dem Höhepunkt der Bewegung 1977 verortet, die auch etwas mit der isolierten italienischen Entwicklung zu tun hatte, die zu diesem Zeitpunkt nicht in einem internationalen Kontext des Klassenkampfes stattfand und so in der “militarisierten” Sackgasse der diversen Gruppen endet. Unfähig die Klassenkonfrontation auf das nächste Level zu heben (der Bürgerkrieg, bzw. die Tendenz zum Bürgerkrieg), nicht dazu fähig, diesen objektiven Mangel zu realisieren, wird “die Partei” nicht zur “historischen Partei” sondern als “bewaffnete Partei” zum Ausdruck eines Subjektivismus ohne eine ausreichende soziale und gesellschaftliche Verankerung, eine “Partei” die “von Außen” kommt, nicht “aus der Klasse”. Die Frage, die es zu untersuchen gilt, und die die Situation in den 70er in Italien von der in der BRD scheidet, ist die nach den möglichen Wegen, die es auf dem konkreten Niveau der Klassenauseinandersetzung gab und die nicht gegangen wurden und die im Unterschied zur Entwicklung in der BRD nicht nur eine “antiimperialistische Guerilla” als “Frontabschnitt” im weltweiten Prozeß zugelassen hätte. Sich diesen Frage zu stellen, jenseits von Moralismus, Distanzierung und Historisierung ist revolutionäre Politik heute.
“In der 1970er Jahren schlossen Stephen Hawking, Kip Thorne und John Preskill eine Wette darüber ab, ob ob die Information über hineinstürzende Objekte tatsächlich im sogenannten Schwarzen Loch vernichtet werde (gemäß dem relativistischen Standpunkt von Hawking und Thorne) oder irgendwie erhalten bleiben könnte (gemäß der Quantenphysik im Sinne Preskills). Im Jahr 2004 gab Hawking seine Wette als verloren, obschon die Klärung der Wette noch aussteht.”
So wie alle meine bisherigen Ausführungen in ‘Wurmlöcher des Antagonismus 1 + 2’ sowie ‘Exotische Materie 1’ fragmentarisch bleiben, ja schon angelegt sind, sowohl die heutigen Bedingungen als auch die nicht historisierende Reflexion geschichtlichen Antagonismus betreffend, so offen bleibt die Wette darauf, wie der neue geschichtliche revolutionäre Anlauf ausgehen wird. Denn um nicht weniger geht es in den notwendigen Reflexionen der weltweiten Aufstände und Revolten dieser letzten knapp 2 Dekaden, die ebenso die Bedingungen der gegenwärtigen geschichtlichen Entwicklung determinieren, wie die Neuordnungen um die globale Hegemonie, in die unter den Bedingungen der Verwertungskrise die Tendenz zum Krieg eingeschrieben ist. Revolutionäre Positionen und Analysen auf der Höhe der Zeit zu entwickeln um den “Hunger der Massen nach Politik” (wie ich, Quadrelli zitierend, in Teil 1 von “Exotische Materie” geschrieben hat) zu stillen, bedeutet derzeit aus meiner Sicht vor allem zwei Dinge:
Der Bruch mit der historisch überholten Linken, die immer noch in der Denke von so vielen Leuten sitzt, die eigentlich auf der Suche sind nach einer Möglichkeit, wieder einen revolutionären Antagonismus auf die Tagesordnung zu setzen. Darin müssen die Aufstände der letzten 2 Dekaden ebenso in ihren Praxen wie in ihrer Verweigerung jeglicher Repräsentanz bedingungslos verteidigt werden.
Die Erzählung vom “Ende der Welt”, die im Kern eine Spielart der Erzählung vom “Ende der Geschichte” ist, muss bekämpft werden. Es geht weder darum, die Folgen der vom Kapitalismus geschaffenen Klimaveränderungen zu negieren oder klein zu reden, sondern darum, den allgegenwärtigen Katastrophismus abzuschütteln, der nur Hilflosigkeit und Appelle an die herrschende Klasse generiert.
Um auf diese beiden Punkte näher einzugehen: der vorherrschende linke Diskurs betont immer wieder die Schwäche des “eigenen Lagers” bzw. die Allmacht des Gegners, die Tendenz zur Faschisierung in Gesellschaft und innerhalb der Apparate von Macht und Eliten. Diese Sicht ist auf der einen Seite absolut reduzierend und ausschließend, weil sie sich nicht innerhalb der Analyse des realen Klassenantagonismus bewegt, der in den letzten 20 Jahren von einer Intensität gekennzeichnet ist, wie wir es zuletzt im Übergang von Fordismus zum Postfordismus gesehen haben. Die scheinbar so unterschiedlichen Formen der weltweiten Revolten und Aufstände sind aber fast alle eben Ausdruck der Veränderungen der Klassenzusammensetzung und der Suche der Subjekte der Klasse nach der gegenwärtigen Form des Antagonismus. Die Revolten “springen nicht weiter, als möglich”, weil der revolutionäre Horizont nicht umrissen ist. Eben der “Hunger der Massen nach Politik”. Wenn wir dieses Problem nicht lösen, werden immer wieder konterrevolutionäre Konjunkturen Partizipationsmodelle in die gesellschaftliche Interaktion zu integrieren suchen. Die andere Seite dieser Medaille sind die Faschisierungstendenzen, die im Wechselspiel mit den Partizipationsmodellen die Wucht der Zusammenstösse der letzten 20 Jahre aufnehmen und in ein neues Herrschaftsmodell integrieren sollen. Eine Klasse ohne konkrete revolutionäre Perspektive bleibt so gefangen in diesem Spiel zwischen dem großen und kleineren Übel.
“Ein Trauma ist oft mit einer früheren Erfahrung von Verlust oder Gewalt verbunden. Jetzt sind wir zum ersten Mal mit einem umgekehrten Trauma konfrontiert: dem Trauma des drohenden und unausweichlichen Zusammenbruchs, das den Geist und den Körper junger Menschen auf der ganzen Welt heimsucht.
Die dysphorische Generation, die in einem Zustand physischer Isolation und emotionaler Lähmung aufgewachsen ist, ist traumatisiert von der unbeschreiblichen Vorstellung einer bevorstehenden Katastrophe. Sie weiß, dass der Planet immer weniger mit menschlichem Leben kompatibel sein wird.”
So schreibt Franco ‘Bifo’ Berardi in seinem jüngst erschienen Text “Die Frage”. Die Frage, um an den Titel von Bifos Text anzuschließen, ist es aber, die Bedingungen des angenommenen ‘umgekehrten, aus der Zukunft rührenden’ Traumas zu untersuchen. Zuallererst gilt es festzuhalten, dass (jenseits der notwendigen Anmerkung, dass der Begriff des Traumas heutzutage inflationär verwendet wird) des Pudels Kern nicht das erlittene Trauma, sondern die Möglichkeit des Umgangs mit dem Erlebten (oder um bei Bifo zu bleiben: Mit Sicherheit Eintretenden) ist. Menschen, Individuen als auch Gruppen, reagieren sehr unterschiedlich auf traumatische Erlebnisse, ja ‘werten’ identische Erlebnisse häufig auch unterschiedlich als für sie traumatisierend oder nicht. Ebenso werden sie unterschiedliche Wege wählen, um einen Umgang mit Traumata zu finden. Jenseits von diesen Differenzierungen bleibt aber die zutreffende Beobachtung, dass die Erzählung vom “Ende der Welt” eine Überforderung des menschlichen Geistes darstellt, aus die er entweder in Regression (Die ‘Flucht auf den Mars’ als eine Spielart der Regression der Reichen; Appelle an die herrschende Klasse, “es nicht so weit kommen zu lassen” durch die Beherrschten; oder: Leugnung der Realität, gibt keinen Klimawandel, halb so schlimm), oder Autoaggression (Depression in all ihren individuellen und gesellschaftlichen Spielarten) flüchtet, weil er für sich keine Handlungsmöglichkeiten findet.
Die Erzählung vom “Ende der Geschichte” erklärte den Klassenkampf mit dem Sieg über den Staatskapitalismus für beendet, jegliches Kämpfen für eine andere Gesellschaftsordnung obsolet, so wie die Erzählung vom “Ende der Welt” jegliche Anstrengung für eine “andere Welt” obsolet macht. Es bleiben nur Ohnmacht, Hoffnungslosigkeit und Unterwerfung. Die Erzählung vom “Ende” als perfekte Kolonialisierung des Bewusstseins. Geschichte ist aber immer ein offener Prozess. Natürlich muss der Klimawandel ebenso wie der Faschismus gestoppt werden, realistisch ist dies aber nur im Aufreissen des revolutionären Horizonts. Zum zweiten Mal nach 1917 erleben wir ein weltweites Anstürmen gegen die herrschenden Verhältnisse, es gilt nur die Bilder zu verstehen, die Syntax zu analysieren, in der diese weltweite Revolte zu uns spricht. Gemeinsam. Schritt für Schritt.
“Jede Macht ist endlich. Und auf ihrem Höhepunkt in ihrem fragilsten Aggregatzustand. Und genau an diesem Punkt befinden wir uns. Eben noch konnten sie über Nacht zwei Drittel der Weltbevölkerung wegsperren, jetzt taumelt der Koloss. Das ist die wichtigste revolutionäre Tat derzeit, diese Kunde in die Welt zu tragen. Dies führt unvermeidlich dazu, dass aus Proteste Riots, aus Riots Revolten, aus Revolten Aufstände, und aus Aufständen Revolutionen werden. Wenn die Hoffnung zurückkehrt. Revolutionen resultieren nicht aus Verzweiflung, Aufstände resultieren häufig aus Verzweiflung, Revolutionen resultieren aus Zuversicht.”
Post Covid Riot Prime Manifest
Liebe, Kraft und Zuversicht allen inhaftierten Gefährt*innen und den Genoss*innen auf der Flucht.
Sebastian Lotzer, aus dem Nebel des Orion – 12. April 2025
Anmerkungen
Wurmlöcher des Antagonismus 1 https://non-milleplateaux.de/wurmlocher-des-antagonismus-part-i-polykrise-und-hybris/
Wurmlöcher des Antagonismus 2
https://non-milleplateaux.de/wurmlocher-des-antagonismus-part-ii-subjektivismus-und-klasse/
Exotische Materie 1
https://non-milleplateaux.de/exotische-materie-vom-sozialen-zum-politischen-antagonismus-part-i/
“Die Frage” von Bifo auf Deutsch auf Bonustracks
https://bonustracks.blackblogs.org/2025/04/04/die-frage/
Alle Teile vom Post Covid Riot Prime Manifest zusammengefasst als PDf in der Sunzi Bingfa veröffentlicht
https://sunzibingfa.noblogs.org/files/2022/11/postcovidtrilogie-print.pdf
Weiterführende Lektüren
Renato Curcio: Mit offenem Blick – Ein Gespräch zur Geschichte der Roten Brigaden in Italien von Mario Scialoja. Online komplett hier
https://www.nadir.org/nadir/archiv/PolitischeStroemungen/Stadtguerilla+RAF/offener-blick/offener-blick.html
Rote Brigaden; Fabrikguerillia in Mailand 1980/81 – Ex Militante der Kolonne Walter Alasia erzählen ihre Geschichte. Online komplett hier
https://socialhistoryportal.org/sites/default/files/raf/0219841100_0.pdf