Möglicher Ermittlungsfehler im Prozess um „Gruppe E.“
J.M. soll als Teil einer linkskriminellen Vereinigung gezielt Jagd auf Neonazis gemacht haben – doch nun hat er für eine entscheidende Nacht offenbar ein Alibi.
Von Antonie Rietzschel, Dresden
Leon Ringl wollte eigentlich schon Feierabend machen, als kurz nach Mitternacht mehrere Maskierte in Eisenach in seine Kneipe stürmen. Sie schlagen auf Gäste ein, versprühen Pfefferspray. Als einer der Angreifer mit einem Schlagstock auf Ringl einprügeln will, wehrt er ihn mit dem linken Arm ab. Dann schlägt er mit einem Bierkrug zurück, wirft Gläser, alles was er in die Hände bekommt. Auch seine Gäste wehren sich, drängen die Gruppe mit einem Barhocker zurück, so steht es später in den Vernehmungsprotokollen der Polizei.
Bei den Tätern soll es sich um die mutmaßliche „Gruppe E.“ gehandelt haben. Die Bundesanwaltschaft wirft deren angeblicher Anführerin, der Studentin Lina E., und ihren Unterstützern vor, gezielt Jagd auf Neonazis gemacht zu haben. Im Hochsicherheitssaal des Oberlandesgericht Dresden wurden zuletzt Prozesse gegen rechtsextreme Terrorgruppen geführt. Jetzt berichten hier seit Monaten Mitglieder der rechten Szene, wie vermummte Gestalten ihnen auflauerten, auf sie einschlugen. In Wurzen, Leipzig und eben in Eisenach. Ringl ist einer der wichtigsten Zeugen in diesem Prozess, weil er gleich mehrfach Opfer der Gruppe E. gewesen sein soll.
Von dem ersten Angriff in der Nacht Ende Oktober 2019 berichtet der 24-Jährige recht nüchtern. Dann lässt er sich zu einer Bemerkung hinreißen, die den Vorsitzenden Richter Hans Schlüter-Staats stutzen lässt. Er habe erst gedacht, ein Bekannter mache sich einen Scherz mit ihm. „In Ihren Kreisen ist man wohl andere Scherze gewohnt“, kommentiert Schlüter-Staats
Der Mann, der da vor ihm sitzt, ist eine der Schlüsselfiguren der rechtsextremen Szene in Thüringen. Das „Bull’s Eye“ ist Treffpunkt lokaler Neonazis, auch Konzerte fanden dort schon statt. Ringl hat eine Kampfsportgruppe herantrainiert. In seinen Kreisen, weiß man, wie sich das Klicken eines ausfahrenden Schlagstocks anhört, welche Reichweite ein Pfeffersprayflasche hat, man ist auf Angriffe vorbereitet. Dass er einen Baseballschläger hinterm Tresen liegen hat, erzählt Leon Ringl, als sei es das Normalste der Welt.
Anwälte entdecken möglichen Ermittlungsfehler
Unter den Angreifern im „Bull’s Eye“ soll auch der Angeklagte J.M. gewesen sein. Doch seine Anwälte haben mittlerweile Indizien gesammelt, die darauf hinweisen, dass M. in der Nacht gar nicht in Eisenach gewesen sein konnte. Zum damaligen Zeitpunkt wurde der Angeklagte von der Polizei wegen eines anderen Vorwurfs überwacht. Die Auswertung seines Handys ergab offenbar, dass sich M. an dem Abend mit einem Bekannten in einer Kneipe verabredet und getroffen hat – und zwar in Berlin.
Offenbar war das der Bundesanwaltschaft bekannt. In der Ermittlungsakte gebe es entsprechende Vermerke, so die Anwälte und boten an, die Geodaten des Handys unter bestimmten Voraussetzung auswerten zu lassen. Sollte hier tatsächlich ein Ermittlungsfehler passiert sein, wirft das ein schlechtes Licht auf eine Justiz, die schon seit Beginn des Verfahrens in der Kritik steht. Weil sie nicht etwa die einzelnen Körperverletzungen anklagt, sondern die Angeklagten als linkskriminelle Vereinigung behandelt. Dabei gibt es keine genauen Hinweise auf den Gründungszeitraum oder die Zahl der Mitglieder. Besonders linke Aktivistinnen, die den Prozess beobachten, glauben, das Verfahren sei politisch motiviert. Sie sehen Lina E. als Opfer, nicht aber die Rechtsextremen, die nun als Zeugen aussagen.
Es sei darum gegangen, Angst zu machen
Als Leon Ringl von dem zweiten Überfall berichtet, bleibt er weiterhin kühl – dabei ist das Setting recht brutal. Im Dezember 2019 wollte Ringl nach einem kleinen Umtrunk nach Hause und wurde von einer größeren Gruppe auf der Straße überfallen, mit Stangen und Pfefferspray. Ringl zog ein Messer, konnte die Angreifer so abwehren. Seinen Kumpels, die ihm im Auto zu Hilfe kommen wollen, erging es schlechter. Die Angreifer rissen die Türen auf, prügelte auf die Männer ein. Einer von ihnen sagte vor Gericht aus, es sei darum gegangen, Angst zu machen. Und man konnte ihm anhören, dass es zumindest bei ihm funktioniert hat. Ringl sagt dazu nichts.
Seine Kneipe ist Anfang Januar 2021 noch mal Ziel eines Anschlags geworden. Unbekannte zündeten einen Sprengsatz vor dem „Bull’s Eye“, besprühten die Fassade mit dem Spruch: „Fight Nazis every Day.“ Ringl hat das Graffito durch ein anderes ersetzen lassen. „Wir bleiben“, steht jetzt auf der Fassade, eine Bombe ist aufgemalt. Es wirkt wie eine Drohung.
https://www.sueddeutsche.de/politik/linksextrem-rechtsextrem-prozess-1.5548976
passiert am 16.03.2022