Linksextremismus-Prozess: Kronzeuge gibt Beteiligung an Überfall zu
Im Linksextremismus-Prozess um Lina E. hat der Kronzeuge zugegeben, an einem Überfall auf einen Gastwirt in Thüringens beteiligt gewesen zu sein. Außerdem sprach er über die Motive für seine Kooperation mit den Behörden.
Dresden. Im Prozess um eine mutmaßlich links-militante Gruppe um die Angeklagte Lina E. wird noch immer der Kronzeuge vernommen. Seit Juli ist der 30-jährige Erzieher von wenigen Unterbrechungen abgesehen regelmäßig in der Hauptverhandlung, um über sein früheres Leben auszusagen. Seit einem Monat muss sich der mutmaßliche Mittäter von den Verteidigern der vier Angeklagten befragen lassen. Am Donnerstag etwa wurde der Zeuge wieder zu seinen Motiven befragt, warum er eine „180 Grad-Kehrtwende“ gemacht und sich den Ermittlungsbehörden offenbart habe. Der 30-Jährige bestätige, dass in der Szene grundsätzlich nicht mit der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder anderen staatlichen Behörden wie Geheimdiensten kooperiert werde. Erneut bestritt er, aus „Rache“ gehandelt zu haben oder um andere „hinzuhängen“.
Kronzeuge befindet sich in Schutzprogramm
Der Mann hat bereits mehrfach berichtet, dass er seit 2021 in der polnischen Hauptstadt Warschau in einer Kita gearbeitet habe. Dann sei er Opfer eines sogenannten Outings geworden. Seine ehemalige Partnerin hatte ihn wegen sexueller Übergriffe angezeigt, weshalb seit Anfang 2021 gegen ihn ermittelt worden sei. Im Herbst sei er auf einer linken Plattform als Vergewaltiger dargestellt worden, mit Namen und Foto.
„Seine“ Szene habe sich von ihm distanziert, ihm Stadtverbote etwa für Berlin, Leipzig und Nürnberg angekündigt. Am 11. November vergangenen Jahres sei er in Warschau von mutmaßlichen polnischen Rechtsextremen angegriffen worden, die ihn aufgrund der Internet-Veröffentlichung erkannt hätten. Anfang März 2022 wurde das Ermittlungsverfahren wegen der Übergriffe auf seine Ex-Partnerin von der Staatsanwaltschaft Berlin eingestellt.
Anfang 2022 sei er auch bei seinem Arbeitgeber denunziert worden – just in dem Zeitraum, als sich Beamte des Bundesamts für Verfassungsschutz und des polnischen Geheimdienstes mit ihm getroffen hatten. Die deutschen Beamten hätten ihm nahegelegt, sich den Behörden anzuvertrauen. Mehrere Male habe es sich mit ihnen getroffen, einmal auch in der Schweiz. Ab Anfang Mai war der Kronzeuge dann in Deutschland, wurde wiederholt von Ermittlern des Landeskriminalamtes Sachsen vernommen. Er befindet sich nun in einem Zeugenschutzprogramm.
Pariser Urteil in Abwesenheit
Inzwischen wurde der 30-Jährige für ähnliche Vorwürfe in Gera angeklagt und in Paris in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Das berichtete der Zeuge am Donnerstag auch selbst. Dafür werde er die Verantwortung tragen. Heute sei er nicht mehr der Ansicht, mit gewalttätigen Aktionen etwas verändern zu können, sagte er.
Die Verteidiger scheinen überzeugt, dass der Kronzeuge ihren Mandanten bewusst schaden wolle und ihm daher Zusagen der Ermittler gemacht worden seien. So erhielte der Zeuge, wie er selbst einräumte, eine monatliche Zuwendung in Höhe von 1.500 Euro. Der 30-Jährige sagte, das sei kein Lohn für seine Aussage, die Summe entspreche seinem letzten Netto-Einkommen und sichere seine wirtschaftliche Existenz.
Der Versuch der Verteidiger, die Glaubwürdigkeit des Zeugen zu erschüttern, führt nicht nur zu langatmigen Befragungen, sondern auch zu hitzigen Wortgefechten mit dem Vorsitzenden Richter Hans Schlüter-Staats.
Gastwirt sollte wohl erheblich verletzt werden
Er konkretisierte etwa mehrfach Verteidigerfragen, was diese reflexartig als Einmischung empfanden. Vor der Mittagspause kritisierte der Vorsitzende etwa die „eindimensionale“ Befragung des Zeugen, der doch, was laut Schlüter-Staats den Verteidigern offenbar entgangen sei, auch entlastende Angaben über die Angeklagten gemacht habe.
Die aus Kassel stammende Studentin Lina E. und drei Männer aus Leipzig und Berlin müssen sich seit September vergangenen Jahres unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung und Bildung einer kriminellen Vereinigung vor dem Oberlandesgericht Dresden verantworten. Die Generalbundesanwaltschaft ist überzeugt, dass sie zu einer „links-militanten Gruppe“ gehörten, die gezielt bekannte beziehungsweise vermeintliche Neonazis ausgekundschaftet und überfallen hatte. Mehrere Männer seien schwer verletzt worden.
Bei einem Angriff im Dezember 2019 in Eisenach, habe der Kronzeuge als sogenannter Scout mitgewirkt, wie der 30-Jährige zugab. Seine Aufgabe sei es gewesen, einen Gastwirt aus der rechtsextremen Szene Thüringens nachts auszuspähen und seinen Komplizen, darunter offenbar auch Lina E. und ihr Verlobter, der 2020 untergetaucht ist, zu melden. Er sei von E.s Verlobten für diese Aufgabe angeheuert worden. Der Kronzeuge berichtete, es sei geplant gewesen, den Gastwirt erheblich zu verletzen. Lina E. und weitere Verdächtige waren unmittelbar danach von der Polizei nach einer Verfolgungsfahrt gestellt worden.
Der Prozess wird fortgesetzt. Für den Kronzeugen sind noch weitere Sitzungstage bis zum 1. Dezember reserviert. In diesem Jahr wird der Prozess wohl nicht enden. Der Staatsschutz-Senat hat inzwischen weitere Sitzungstage bis Anfang April 2023 terminiert.
passiert am 17.11.2022